Unser Label
Helgard Haug und Daniel Wetzel, beide Absolventen des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft (Gießen), arbeiten seit 1995 zusammen. Seither haben sie in unterschiedlichen Konstellationen mit scharfsinnigen Interventionen im öffentlichen Raum sowie mit dokumentarischen Theaterstücken und Hörspielen auf sich aufmerksam gemacht.
Ihre Performer sind zumeist »Experten des Alltags«, die als Ready-Made-Darsteller mit ihren eigenen Biografien in theatralische Zusammenhänge gebracht werden. Wirklichkeit wird nicht abgebildet, nicht künstlich dramatisiert, sondern auf die Bühne geholt – ein ebenso konsequenter wie einfacher Ansatz. 2002 gründeten sie mit Stefan Kaegi und Bernd Ernst das Label Rimini Protokoll, unter dem sie sich schnell einen Namen gemacht haben durch postdramatische Gegenentwürfe zum Schauspiel und seiner Dramenlastigkeit.
Beispielsweise gewann «Shooting Bourbaki” von Haug / Kaegi / Wetzel 2002 den Preis der NRW-Impulse und die Rimini-Produktionen «Deadline” (Haug / Kaegi / Wetzel) und «Wallenstein” (Haug / Wetzel) wurden zum Theatertreffen eingeladen, obwohl weder ein Stück gespielt wurde noch Schauspieler auf der Bühne standen. Im November 2007 erhielten Haug / Kaegi / Wetzel einen Sonderpreis des Deutschen Theaterpreises DER FAUST, im April 2008 wurde ihnen in Thessaloniki der Europäische Theaterpreis in der Kategorie Neue Realitäten verliehen.
Die Projekte setzen alle bei fast journalistischen Recherchen an, Gesprächen mit Menschen, die mit ihren Biografien und ihrem Fachwissen die Stoffe liefern, mit denen die Künstler von Rimini Protokoll Theater machen, »Experten-Theater«, eine »Renaissance und Neudefinition des dokumentarischen Theaters« (Süddeutsche Zeitung), denn die Quellen des Textes bevölkern die Bühne, statt ihn an Schauspieler abzugeben. Sie betreten sie aber nicht als Amateurschauspieler, sondern auch als ‚Darsteller ihrer selbst’, die in der Regel noch nie auf der Theaterbühne standen, sondern »ihr Theater« andernorts trainiert haben auf Bühnen, die das Leben eingerichtet hat.
In der Rimini-Produktion «Deadline” (Deutsches Schauspielhaus in Hamburg u.a., 2004) traten beispielsweise fünf Experten der mitteleuropäischen Todesarten auf; in der Bühnen-Arbeit «Wallenstein” (Schillertage Mannheim, 2005) standen Menschen aus Mannheim und Weimar auf der Bühne, die sich mit ihrer Biografie an Schillers Protagonisten maßen und mit ihren eigenen Texten am ursprünglichen Dramentext. Am Schauspielhaus Düsseldorf war im Jahr 2006 Marx’ »Das Kapital« Ausgangspunkt einer Suchbewegung, die durch die Biographien von acht Personen die Aura und den Text des Buches ergründete. »Karl Marx: Das Kapital. Erster Band« gewann 2007 beim Festival Stücke07 sowohl den Publikumspreis als auch den Mülheimer Dramatiker-Preis 2007. Während «Call Cutta in a Box” Theatergänger in verschiedenen europäischen Städten mit der Lebensrealität von indischen Call-Center-Agenten in Kalkutta per Telefon verband, verfolgte «Black Tie” (Hebbel-am-Ufer Berlin, 2008) die Adoptionsgeschichte einer jungen Frau von Seoul nach Osnabrück und lotete die schwarzen Löcher der eigenen Herkunft aus.
So sehr das Theater von Haug / Wetzel auf Recherchen basiert, »so aufrecht das Interesse der ehemaligen Gießener Theaterwissenschaftsstudenten an den Menschen und deren Geschichten ist – es ist ein theatralisches. Begründet im Misstrauen gegen das Repräsentationsschauspiel mit seinen Repräsentationsschauspielern; eine ästhetische, eine philosophische Überlegung, keine politische oder sozialarbeiterische«, schrieb Florian Malzacher in der Frankfurter Rundschau.
Dieses Werk bzw. dieser Inhalt ist unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.