Zirkeltraining und vier Aktenordner voller Briefe

"Peymannbeschimpfung": Besuch einer der ersten "Trainingsstunden" von Rimini Protokoll und dem Turnverein Stammheim

By Nicole Golombek

21.09.2007 / Stuttgarter Nachrichten

Abends im Schauspielhaus Stuttgart. An den Randplätzen im Saal sitzen

Teenager und Frauen in T-Shirts und Turnhosen und beraten über ihren

Auftritt. Auf der Bühne steht ein Mann im grauen Arbeitskittel an

einem Pult, und immer wenn er Knöpfe bedient, sieht man auf einer

Leinwand Luftaufnahmen wechseln. Ein Landkarten-DJ.


Bad Homburg, Stuttgart, Salzburg, USA. Das sind einige der Orte, die

als Absender für Briefe an Claus Peymann angegeben wurden. Claus

Peymann ist auch da, auf der Leinwand nebenan, und liest Briefe vor,

manchmal blickt er in die Kamera, schüttelt entgeistert den Kopf,

seine Gesichtsfarbe wechselt von Brief zu Brief. Er geifert, es sind

nicht seine Worte, die er ausspeit. Es sind Peymannbeschimpfungen.

Briefe als Reaktion auf einen Zettel, den er am Schwarzen Brett des

Theaters aufgehängt hatte: Wer wolle, könne sich an Zahnspenden für

RAF-Häftlinge beteiligen.


"Gehen Sie doch nach Stammheim", ruft er. "Das ist das Stichwort für

die erste Gruppe", sagt Daniel Wetzel in Richtung Publikum. Die

Frauen stehen von ihren Randplätzen auf, marschieren die Treppen

hinunter, positionieren sich auf der Bühne. Wirbelsäulengymnastik.

Während sie minutenlang leichte Dehnübungen machen, werden Briefe

eingeblendet. Eine Sportlerin tritt an die Rampe und erzählt, was man

den Zahnärzten im Stammheimer Gefängnis einschärfte: Nichts Privates

erzählen, keine Namen, und daheim immer erst durch den Spion gucken,

bevor man die Tür öffnet.


Später werden weitere Gruppen des TV Stammheim - Hip-Hop, Yoga,

Paartanz, Tischtennis, Zirkeltraining - auf die Bühne kommen,

Einzelne berichten von ihrem Leben in Stammheim, während weiter

Briefe vorgelesen werden, es sind neben dümmlichen einige sachlich

argumentierende dabei sowie Peymann unterstützende.


Die Briefe haben den Anstoß zu diesem Abend "Peymannbeschimpfung. Ein

Training" von Helgard Haug und Daniel Wetzel (Rimini Protokoll)

gegeben. Stuttgarts Chefdramaturg Jörg Bochow ist mit vier

Aktenordnern Zahnspenden-Affäre-Briefe an Peymann, die ihm das

Staatsarchiv Ludwigsburg zur Verfügung gestellt hatte, zu den

Theaterleuten gereist; auch weil sie einige Zeit zuvor Claus Peymann

persönlich kennengelernt hatten, sagten sie zu.


"Einer unserer ersten Recherche-Ausflüge", sagt Helgard Haug, "hat

uns nach Stammheim zur Justizvollzugsanstalt (JVA) geführt. Wir sind

um den Komplex herumgelaufen. Auf dem Weg mussten wir ständig

Joggern, Radfahrern und Walkern ausweichen. Bei der Frage, mit wem

wir die Briefe angucken sollten, um einen Kontrast zu ihnen zu

eröffnen, sind wir dann beim TV Stammheim gelandet. Der Sportverein

liegt an derselben Straße wie die JVA. Die Menschen, die hier Sport

machen, sind nicht die Absender der Briefe. Sie kommen mit ihrem

Blick auf das ,Stammheim-Klischee" zu Wort und bleiben an den Abenden

der Aufführung damit mal nicht unter sich."


Wie schon in früheren Projekten (für ihren Marx-Abend haben sie

dieses Jahr den Mülheimer Dramatikerwettbewerb gewonnen) arbeitet die

Theatergruppe Rimini Protokoll mit Menschen zusammen, die keine

Schauspieler, aber Experten des Themas sind. "Wir haben anders als

sonst bewusst kaum Zeit zum Proben eingeplant, da der Abend ein

Training bleiben soll und ja auch ein Teil eines größeren Projekts

ist. Auch wenn wir jetzt merken, dass es wunderbar wäre, noch

intensiver mit den Menschen zu arbeiten, ist es wichtig, genau

das ,Unfertige" auszuhalten. Mit dem Programm der Projektwochen hat

sich das Theater entschlossen, zu riskieren, auch rohere Entwürfe zu

zeigen, nicht nur Wasserdichtes und Hochglanzpoliertes", sagt Helgard

Haug. Das Handy klingelt, Zeit für die nächste Probe, der Abend soll

auf eine Stunde verdichtet werden, und am Samstag ist schon Premiere.


Projects

Offending Peymann - a Training