By Nora Mansmann
12.01.2004 / www.streitbar.org
Detlef Weisgerber ringt nach Luft, die Buchstaben verdrehen sich in seinem Mund, manchmal hält er zwischendurch kurz inne und schließt die Augen, bis der Text zu ihm zurückkehrt. Der hagere ältere Herr in der grünen Jacke ist ein Zuschauer aus Passion - doch jetzt steht er selbst ganz vorne, im Scheinwerferlicht, auf der Bühne des HAU 2, und erzählt stockend von seinem Hobby: Detlef Weisgerber besucht als Zuschauer Gerichtsverhandlungen. Jetzt ist Weisgerber einer der acht Protagonisten im aktuellen Projekt von Rimini Protokoll, das unter dem Titel „Zeugen! - Ein Strafkammerspiel“ am 10. Januar seine Premiere in den Räumen des neuen Berliner Theaterkombinats Hebbel am Ufer feierte.
Als Detlef Weisgerber auftritt und der Abend beginnt, ist die Bühne noch weitgehend leer. Im Laufe der Vorstellung wird das Bühnenbild mit wenigen Elementen und Requisiten von den Darstellern selbst auf- und immer wieder umgebaut. Die wichtigste Rolle spielen dabei große verschiedenfarbige Holzplatten, die auf dem Boden ausgelegt oder als vielseitiges Requisit genutzt werden und aus denen nach und nach die Möbel eines Gerichtssaals entstehen. Es ist ein geschickter Schachzug des jungen Regiekollektivs, den Menschen auf der Bühne mit dem ständigen Umbau etwas zu tun zu geben, denn eine lineare Handlung gibt es nicht. „Zeugen!“ ist eine Collage aus Biografien, Erlebnissen und Zitaten von Menschen, die etwas mit dem Gericht zu tun hatten oder haben, sei es als Schöffin, als Rechtsanwalt oder als Zeugenbegleiterin. Einige von ihnen stehen selbst auf der Bühne: Sechs der acht Protagonisten des Abends sind keine Schauspieler, sie stellen sich selbst dar, erzählen von sich, von ihrer Arbeit und vom Ablauf einer Gerichtsverhandlung aus ihrer Sicht. Daneben sind mit Fabian Gerhardt und Franziska Henschel zwei Professionelle beteiligt, die zunächst in der Rolle der Gerichtszeichnerin und des Angeklagten stecken, sich jedoch am Ende zu erkennen geben. Der Zuschauer, der ohne Vorwissen über das Projekt gekommen ist, fragt sich somit während des ganzen Abends, wer hier echt ist und was nicht, zumal die Bühnenpräsenz und die darstellerische Souveränität einiger Laien durchaus an die schauspielerischen Leistungen zumindest Franziska Henschels herankommt und es andererseits ja durchaus möglich ist, dass die Laien einmal nicht die eigene Geschichte erzählen, sondern dass auch sie in eine andere Rolle schlüpfen.
Der Abend, der von einer intensiven Beschäftigung mit dem Dokumentartheater der 60er Jahre zeugt, erinnert an vielen Stellen auch ans Fernsehen; dort könnte man sich eine Dokumentation „Wie funktioniert ein Gericht?“ vorstellen, in der verschiedene dort Beschäftigte interviewt werden. Hier im Theater allerdings erfährt man - ungeschnitten sozusagen - nebenbei noch mehr oder weniger Interessantes über die Ausstattung der Moabiter Gerichtssäale, über weitere abstruse Hobbies und über die nicht-gerichtliche Vergangenheit der Protagonisten. Das sich das Publikum dabei auch herzhaft über die Schrullen der sich auf der Bühne veräußernden Menschen amüsiert, wirft die Frage auf, inwieweit diese Menschen wissen, was sie tun, wenn sie sich und die Dinge, die ihnen wichtig sind, die für andere aber lächerlich scheinen, so zur Schau stellen lassen. Ob ihnen bewusst ist, dass ihre begeisterte Erzählung von Häkeldeckchen oder der Innenarchitektur der Gedächtniskirche hier als guter Effekt, als Lacher, funktioniert? Viele Elemente des Abends erinnern an TV-Dokumentarspiele, bei denen Ereignisse, hier also Kriminalfälle bzw. deren Verhandlung, nachgestellt werden. Und schon ist die Assoziationskette angelangt bei Gerichtsshows wie „Richterin Barbara Salesch“ oder „Das Familiengericht“, die auch konkret thematisiert werden, wenn Zeugenbegleiterin Brigitte Geier von einem Casting für einen der Shows berichtet, an dem sie teilgenommen hat. Eine Zuspitzung erfährt der Abend, als Brigitte Neubacher auf die Bühne gebeten wird. Sie ist ebenfalls keine Schauspielerin, doch sie ist ganz anders und viel existenzieller vom Thema des Abends betroffen als alle anderen Protagonisten. Brigitte Neubacher ist eine Angeklagte, deren Verfahren offenbar noch aussteht. Indem sie kurz selbst ihre (Lebens-)Geschichte umreißt, verwandelt sie das Ende des bisher fröhlich durch Gerichtsanekdoten aufgelockerten Abends in eine große, von der Regie natürlich gewollte Irritation. Einerseits möchte man Mitleid haben mit dieser Frau, die offenbar ein lebenslanges Opfer ist, andererseits erinnert ihr Bericht, der viel stärker emotional gefärbt ist als die Erzählungen der anderen und unterdrückte Tränen hörbar macht, unangenehm an eine Mittagstalkshow - wobei hier auf der Bühne allerdings nicht alles gesagt wird und Räume offenbleiben, die der Zuschauer selbst mit Vermutungen füllen kann. Und dann fragt man sich doch immer wieder „Ist die wirklich echt?“ Einige Zuschauer haben diese Frage offenbar schon mit einem klaren „Nein“ beantwortet, denn während Brigitte Neubacher spricht, wird auch Gelächter laut. In einem schwierigen Balance-Akt zwischen Laientheater und Professionalität, zwischen informativer Dokumentation und dem Versuch, auch die - während der Proben vielleicht liebgewonnenen - Persönlichkeiten der Menschen auf der Bühne sichtbar zu machen, bewegen sich Rimini Protokoll relativ sicher auf dünnem Eis.
Die Frage ist, was man von einem Theaterabend erwartet - hohe Schauspielkunst bekommt man hier kaum zu sehen, auch wenn auf diesem Felde sicher selbst mit Laien noch mehr möglich gewesen wäre. Die meisten Körperlichkeiten und Handlungen auf der Bühne sind leider nur eins zu eins illustrierender Art, und hier hätten durch Improvisation oder auch durch Vorgaben der Regie noch fantasievollere Bilder gefunden werden können. Oft werden Texte abgelesen, vielleicht auch das ein Blick auf Dokumentartheater-Inszenierungen der 60er Jahre, denen dieser Abend an Informationsgehalt ins nichts nachsteht, wobei er aber gleichzeitig mehr ist als der Versuch, Fakten ans Publikum zu bringen. Was beim Zuschauer am Ende oder vielmehr schon während der Vorstellung ankommt und entsteht, die vielen Assoziationen und Gefühle, die ein Nachdenken über sehr viele unterschiedliche Aspekte anregen, lohnen jedenfalls schon für sich allein einen Besuch im HAU 2.