By Christine Wahl
30.04.2011 / Tagesspiegel
Wenn jemand weiß, wie man sachkundig zur Tiefenbohrung ansetzt, dann ist das zweifelsohne Gerd Baumann. Jahrzehntelang hat der ostdeutsche Ingenieur nach Erdöl gebohrt. Nicht nur im Irak und in Texas, sondern – in den 1980er Jahren – auch in Kasachstan. Dort soll in zehn Jahren mehr Öl gefördert werden als in Kuweit vor dem Irakkrieg.
Helene Simkin, die in Kasachstan aufwuchs, in Hannover lebt und jetzt mit Baumann und drei weiteren „Experten des Alltags“ auf der Bühne des HAU 2 steht, war damals etwa zehn Jahre alt. Sie träumte, die russische Raumstation Baikonur täglich im Blick, von einer Karriere als Kosmonautin und führt auf der Bühne mit zackigen Bewegungen mal eben vor, wie man eine Kalaschnikow zerlegt.
Helene braucht dafür genau 17 Sekunden: In der Region, wo heute Öl gefördert und eine Hauptstadt aus dem Boden gestampft wird, die aussieht wie eine Sammlung ins Unermessliche vergrößerter Parfümflakons, gehörte die Waffenpflege vor 30 Jahren zum Grundschulstoff.
Das Globale unangestrengt im Lokalen zu spiegeln, das Weltpolitische mit exemplarischen Biografien zu konfrontieren und daraus differenziertes Informationskapital zu schlagen, ist die Stärke der Expertenabende von Rimini Protokoll. In Stefan Kaegis neuer Arbeit „Bodenprobe Kasachstan“, die die Ölbohrungen mit den Lebensgeschichten zweier Russlanddeutscher, einer Tadschikin und eines in Deutschland mit Erdöl und Solarzellen handelnden Kasachen verknüpft, gelingt das einmal mehr.
Dabei bedient sich Kaegi, der schon mal Tausende von Heuschrecken auf der Bühne versammelte oder Theatergänger auf den Spuren bulgarischer Fernfahrer im LKW durch Berlin schickte, diesmal keiner ähnlich spektakulären Bühnen-Metapher. Seine Performer treten vergleichsweise gegenständlich in Dialog mit den Videobildern Chris Kondeks, die man sich wie eine lebensgroße Kasachstan-Simulation vorzustellen hat. So begegnet Helene etwa der Direktorin ihres einstigen „Pionierpalasts“ wieder: Die rüstige Dame spornt ihre Ex-Schülerin wie eh und je zu Höchstleistungen à la Juri Gagarin an – und ist nicht die Einzige, die ein durchaus ambivalentes Gefühl hinterlässt. Tiefbohringenieur Baumann, der sich den ganzen Abend exakt in jener Geschwindigkeit auf einem Laufband bewegt, in der das Öl durch die Pipeline fließt, erfährt in einer ähnlich clever vorproduzierten Unterhaltung mit einem Kollegen vor Ort, dass Kasachstan in Sachen Erdölförderung weltweit an fünfter Stelle liegt und er dort bis zu 1500 Dollar pro Tag verdienen könnte.
Vom Informationswert abgesehen, gelingt es Kaegi und Kondek vor allem, an diesen permanenten Kippfiguren zwischen Gestern und Heute eine sehr spezielle Stimmung zu erzeugen. So viel und elegisch gesungen wie an diesem Abend – insbesondere vom Russlanddeutschen Heinrich Wiebe, der in Kasachstan als Tanklastwagenfahrer arbeitete und sich jetzt mit Hausmeisterjobs durchschlägt, weil sein Führerschein nicht anerkannt wird – wurde wahrscheinlich noch nie bei Rimini Protokoll.
Einige Alltagsexperten bringen ihre Geschichten inzwischen zumindest augenblicksweise so pointiert über die Rampe, dass man schon sehr genau nach den kleinen Widerhaken suchen muss – nun, das liegt wohl in der Natur der Sache. Aber erstens erzählt auch das einiges über die Kollisionspunkte zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Und zweitens lässt Kaegis „Bodenprobe Kasachstan“ insgesamt so wohltuend viele Differenzen zu und Deutungslücken bewusst offen, dass man mit Oberflächenvertrauen sowieso nicht allzu weit kommt.