By Adrienne Braun
26.07.2022 / sueddeutsche.de
Der Preis pro Gramm: drei Euro. Ist die Ernte gut, erwirtschaftet die junge Frau ein Monatseinkommen von 6000 Euro. Und die Ernte ist gut, dafür sorgen in ihrer Wohnung Strahler und Lüftungsgeräte, die die alleinerziehende Mutter angeschafft hat, weil sie nicht länger als Grafikerin sinnlose Produkte bewerben wollte. Nun beglückt sie die Menschen mit Cannabis. Den Strom zapft sie von der Straßenlaterne ab, der Sohn glaubt, Mutti ziehe Heilpflanzen - und die kleine Familie hat ihr friedliches Auskommen.
Wer weiß, was die eigenen Nachbarn treiben und all die anderen Milliarden Menschen, die gemeinsam den Organismus Stadt bilden. Der urbane Raum mit seinen Akteuren lässt sich kaum fassen, "Rimini Protokoll" hat trotzdem versucht, das vielstimmige Nebeneinander körperlich spürbar zu machen: "Urban Nature" nennt sich das größte und fraglos komplizierte Ausstellungsprojekt des Theaterkollektivs, für das es in der Kunsthalle Mannheim einen Parcours durch verschiedene Lebenswelten inszeniert hat. Herausgekommen ist ein ambitionierter, auf die Sekunde getakteter Video-Walk, bei dem der Server dafür sorgt, dass die Bewegungen des Publikums, Projektionen und Sounds gespenstisch perfekt ineinander greifen.
In der Bildenden Kunst haben immersive Ausstellungen längst Konjunktur, sie verschaffen die Illusion, physisch in Gemälde einzutauchen. In der Kunsthalle Mannheim durchschreitet das Publikum hingegen ein komplexes Geflecht aus Bühnenbildern und Videoprojektionen, wobei zwischen den Schauplätzen auch ständig Bezüge hergestellt werden. Das Besondere dabei: Das Publikum wird selbst zum Akteur. Wo immer man geht und steht, ob man im Knast an der Werkbank sitzt oder in der Bar am Tresen - jeder ist permanent Protagonist im Stück der anderen.
Wer mag, kann sogar solistisch kleine Aufgaben übernehmen und Szenen aus dem Leben derer nachstellen, die Rimini Protokoll diesmal als "Experten aus der Wirklichkeit" herangezogen hat. In "Urban Nature" erzählen sieben Städter ihre Geschichten, eine schwerreiche Anlageberaterin ist dabei und ein aufgeblasener Tech-Unternehmer. Ein Kind und eben jene Grafikerin, die ihre Tage damit verbringt, Cannabis-Pflanzen zu hegen und - verkehrte Welt - im Grunde mitten in der Großstadt das Leben einer Bäuerin führe, wie sie sagt. "Ich habe mich dem Rhythmus der Natur angepasst."
"Urban Nature" wurde für das Centre de Cultura Contemporània in Barcelona konzipiert und ist nun für Mannheim übersetzt und für die tausend Quadratmeter große Ausstellungsfläche so modifiziert worden, dass es keine Rolle spielt, dass diese sieben Stadtbewohner Spanier sind. Ihre Perspektiven sind so individuell wie austauschbar, denn längst radeln in allen Metropolen die Kuriere von Lieferando und Co.. Miguel ist begeistert von ihnen. "Der Verkehr wird drastisch reduziert", meint er euphorisch, "und die Stadt dadurch immer nachhaltiger."
Dort, wo der Volksmund das Wort führt, muss man zwar auch mit verengten Sichtweisen rechnen, in der Summe schälen sich bei diesem ungewöhnlichen Experiment zwischen Theater, Film und Installation aber doch verschiedene ökonomische Perspektiven heraus. Besonders anregend ist "Urban Nature" dort, wo Fragen aufploppen: Geht eher Gefahr von homogenen oder von heterogenen Gruppen aus? Und hat dieser Enrico, ein Wirtschaftshistoriker, recht, dass das Stadtleben nachhaltiger als das Landleben ist, weil man sich im urbanen Raum die Infrastruktur teilen kann?
Und doch gerät das Projekt an Grenzen. Denn selbst wenn man an einer Station in einer Privatbank am edlen Holztisch sitzt, fühlt man sich nicht zwangsläufig wie ein Kunde, der mal eben zwei Millionen investiert. Vor allem geraten die Ko-Akteure aus dem Publikum neben den vorproduzierten Videos hoffnungslos ins Hintertreffen, weil sie die Handlung nur laienhaft doppeln. Und doch steckt in dem ausgebufften Spiel mit permanenten Rollenwechseln eine bedenkenswerte Botschaft: In Städten sind keineswegs anonyme Mächte am Werk, sondern wir konstruieren gemeinsam Realität. Dadurch sind letztlich alle mitverantwortlich, "dass Erwachsene Städte bauen", wie es einmal heißt, "die für die eigenen Kinder zu gefährlich sind."