By Alexandra Kedves
15.01.2018 / Tagesanzeiger
Mein Name ist Urs Rohner, ich bin seit 2011 Verwaltungsratspräsident der Credit Suisse, verantwortlich für 48'200 Mitarbeiter. Das verrät mir die Mappe, die unter meinem Platz in der Schiffbaubox steckte. Zu meiner Linken sitzt Nathalie Colin, Kreativdirektorin von Swarovski, rechts Roberto Quarta, ein Partner der milliardenschweren Private-Equity-Firma Clayton, Dubilier & Rice. Rundherum lauter Wirtschaftspromis aus der ganzen Welt.
In unseren Rücken ragen die Davoser Gipfel auf, das Jakobshorn, das Rinerhorn, der Gotschna und wie sie alle heissen: Eine ironisch-folkloristische Laubsägearbeitskulisse säumt die ovale Zuschauertribüne. Und wir schauen aufs Städtchen zu unseren Füssen, das sich da imaginär in einer Art Arena ausbreitet – wie in unseren Köpfen die Gewissheit, nun buchstäblich ganz oben mitzuspielen: Unter der künstlichen Schneeflockendecke verbirgt sich ein abstrakter Stadtplan mit den Points of Interest zwischen Davos Dorf und Davos Platz; die Experten, die in dieser Arena auftreten, werden ihn freischippen. Zeit fürs WEF, das World Economic Forum.
100'000 für einen Badge
Vor dem echten, 48. Klassentreffen der Top Shots im Höhenkurort Ende Januar haben die Doktheater-Propheten der schweizerisch-deutschen Gruppe Rimini Protokoll jetzt ihre Version davon uraufgeführt: «Weltzustand Davos (Staat 4)». Sie schlossen damit ihre Tetralogie über den Staat in nachnationaler Zeit. Checks and Balances? Fehlanzeige. Oder doch nicht? Gewaltenteilung als Regulationsmechanimus zum Wohl aller erweist sich jedenfalls als Projekt mit Lücken und Tücken.
Bereits im Sommer zogen wir «Top Secret» (Staat 1) durchs Kunsthaus Zürich, stellten uns den schwierigen Fragen des dreckigen, internationalen Geheimdienstzirkus. Auch in «Gesellschaftsmodell Grossbaustelle» (2) walzten globale Interessengruppen die Bedürfnisse des kleines Mannes platt. Der hofft auf Partizipation im Netz: «Träumende Kollektive, tastende Schafe» (3) bot interaktives Cloud-Theater. Doch über den Wolken hocken die Strippenzieher von Glencore und Saudi Aramco, Apple und chinesischen Grossbanken. Sie treffen in Davos die politischen Player; 2018 kommt Trump ans Event, für das Rimini Protokoll keinen der begehrten Badges erhielt. Wir schon: in der Mappe. Unsere Firma liess dafür 100'000 Franken springen, weiss Hans Peter Michel, Ex-Landammann von Davos, einer der fünf Experten des Abends.
Was Klaus Schwab 1971 als Kommunikationsplattform für die wirtschaftliche, politische und intellektuelle Elite des Erdballs ins Leben rief, ist ein irres Geschäftsmodell: «Win-win-Situation» für alle Beteiligten, schmunzelt Bergbauernsohn Michel. Der Kurort, der die einträglichen Tuberkulosekranken an den Fortschritt verlor, macht seinen Reibach als Hotspot der Global Leaders. Der Buchladen, hier im Dia an die Wand projiziert, verdoppelt in den vier Tagen seinen Jahresumsatz: Er vermietet den Raum. Wie die Schule ihre Aula und Bauern ihre Wiesen. Die Besucher tauschen sich dafür im sicheren Bergort mit so vielen hochrangigen Gesprächspartnern aus wie sonst in Jahren nicht. Eine Chance auch für die, die für die Schwachen Einfluss nehmen wollen: UNO, NGOs, Menschenrechtler.
All dieses Treiben geht über der Silhouette der Gipfelkette auf: Bühnenbildner Dominic Huber hat tolle Arbeit geleistet. Die Landeanflüge, das Gewusel in der Kongresshalle, die Hotels, Schnappschüsse von Politikern von Nelson Mandela bis Xi Jinping, Statistiken: Alles wird aufs Rundpanorama gebeamt (Video: Mikko Gaestel). Rimini Protokoll – inszeniert haben Helgard Haug und Stefan Kaegi – präsentiert eine Unmenge Material und lässt die Experten nicht bloss die persönliche Story schildern, sondern die globalen Verwerfungen.
Voller Wissens-Bitcoins
So berichtet Lungenarzt Otto Brändli von neuen, resistenten Tuberkulosekeimen, deren Erforschung die Pharmaindustrie nicht interessiert. Sozialmediziner Ganga Jey Aratnam hat die sambischen Minen von Glencore besucht, die die Leute dort ins Elend stürzen – die Familie seiner Zuger Frau jedoch reich machten. Die langjährige Direktorin des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, Cécile Molinier, versuchte einst, geschmeidige Deals mit Nestlé einzufädeln; sie scheiterte. Die 1986 in Russland geborene Sofia Sharkova wiederum, Vizepräsidentin der Zürcher Sektion der jungen «Global Shapers» des WEF, engagiert sich gegen die Diskriminierung von Frauen in der Wirtschaft.
Was für ein wuchtiges Ding dieser «Weltzustand» ist! Wie eine Seminararbeit voll aufregender Wissens-Bitcoins und vielversprechender Dramenbytes – die in den zwei Stunden aber nicht zum dokdramatischen Mitgeh-Theater fusionieren. Bei den Proben, heisst es, sei die Interaktion zwischen Publikum und Experten sehr lebhaft verlaufen. An der Premiere freilich wird vor allem in den Mappen geblättert. Man ist zwar voller Hochachtung für den Landammann (der kann sogar jodeln!) und die anderen Experten; auch voller Respekt fürs umfassende WEF-Lexikon samt seinen Highlights wie das nachgestellte Treffen zwischen Rabin, Peres und Arafat 2001. Allerdings kämpft Urs Rohner während der Aufführung über suspekte «Public-private-Partnerships» eine hochprivate eigene Schlacht – gegen die Langeweile.