By Daniele Muscionico
20.10.2017 / Neue Züricher Zeitung
Herr Tsinikoris, der Medienwirbel um Ihr Land ist vorüber. Wieso ist es nun so merkwürdig still?
In Griechenland will keiner mehr über Politik sprechen, keiner möchte mehr demonstrieren, weil es nichts bringt. Die Kehrtwende Tsipras' nach dem Referendum hat dem politischen Widerstand der Bevölkerung das Genick gebrochen. Man hat das Gefühl einer kastrierten Gesellschaft, die sich nur noch auf Facebook trifft, um zu streiten.
Griechenland ist die Wiege des europäischen Theaters. Wie ist sein Zustand heute?
In Athen werden zwei Institutionen staatlich gefördert, und die Angestellten werden bezahlt. Eines davon ist das Nationaltheater, an dem Anestis Azas und ich seit zwei Jahren die experimentelle Bühne leiten. Wir versuchen, so vielen griechischen Gruppen wie möglich ein Forum zu geben. Wir wollen Künstler fördern, die auch fürs Ausland attraktiv wären, weil sie Gegenwartsthemen behandeln und eine Narration des griechischen Theaters weiterführen. Sehr aktiv ist auch die Niarchos-Foundation, für die Renzo Piano ein neues Opernhaus gebaut hat. Regisseure, die noch nie Oper machten, inszenieren jetzt dort, denn es gibt Geld.
In der Krise haben zwei Wohltäter oder, wenn man so will, Flaggschiffe des Kapitalismus die griechische Kulturlandschaft geentert: Die Stiftung des Reeders Stavros Niarchos, die die Oper fördert, und jene von Aristoteles Onassis, die Theater produziert. Was bedeutet das?
Nicht was manche behaupten: Sie machen den Markt nicht kaputt! Die Onassis-Stiftung ist ein sehr starker Player geworden. Auch deshalb wird viel auf ihr herumgehackt, und ich spreche nicht deswegen gut über sie, weil sie unser Stück «Clean City» produziert hat. Das Culture Centre und Katia Arfara als Kuratorin des Theater- und Tanzprogramms haben meiner Meinung nach das griechische Theater im Ausland salonfähig gemacht.
In der Szene gilt das Onassis-Kulturzentrum als einer der offensten nichtkonventionellen Theaterorte Europas.
Aber es ist damit wie mit den Kindern reicher Leute, sie müssen sich für ihre Eltern immer entschuldigen, weil sie Geld haben. Doch unabhängig von den Produktionen der beiden Stiftungen sind in Athen im Moment mehr Theatervorstellungen zu sehen als in der gesamten Schweiz und Österreich zusammen. Fast 1600 verschiedene in über 300 Theatern.
Wie ist das in einem krisengeschüttelten Land möglich?
. . . weil es umsonst ist! Wenn es nichts kostet, ist alles möglich.
Wovon leben Sie und Ihre Freunde am Theater denn?
Wenn man in einer der vier subventionierten Athener Bühnen arbeitet, wird man bezahlt, sogar rechtzeitig. Dann gibt es einen kleinen Teil der Produktionen, hinter denen ein reicher Produzent steht. Vielleicht 90 Prozent der Stücke werden selber produziert, und am Ende des Abends teilt man sich die Einnahmen. Wenn es 100 Euro sind, gehen 50 Euro an die Spielstätte - und mit dem Rest geht man zusammen ein Bier trinken.
Wer geht ins Theater, wenn er die Miete nicht bezahlen kann, geschweige denn die Krankenversicherung?
Eine gute Frage. Tatsächlich gehen in Athen alle ins Theater! Vielleicht bekommen sie auch alle Freikarten? Denn es gibt wohl niemanden, der nicht einen Freund oder Bekannten hat, der im Theater arbeitet.
Das Dokumentartheater «Clean City», das Sie in Baden zeigen, bringt fünf Frauen auf die Bühne, die in Athen als Putzfrauen arbeiten, sie kommen von den Philippinen, aus Südafrika, Bulgarien und der Moldau. Die Produktion ist ein Riesenerfolg. Wie erklären Sie sich das ?
Das hat sicher mit dem Charme und dem Humor der Frauen zu tun. Uns sie sprechen nicht aus einer Opfersituation heraus, sondern sind aktive Ko-Autorinnen der Geschichte des Landes. Es sind zwar Putzfrauen, aber sie sind Showbiz-fähig, sie können singen, tanzen, - und sich selbst auf den Arm nehmen. Entweder sind sie wirklich sehr gut, oder Schauspielerarbeit ist überbewertet (lacht).
Glaubwürdigkeit ist das eine. Doch weshalb kann sich das Publikum in Brüssel genauso wie in Timisoara mit ihnen identifizieren?
Die Frauen sprechen über die Ängste der Mittelschicht, über Arbeitsrechte, über prekäre Arbeitssituationen, die Angst, ohne Rente dazustehen. Ich glaube, das ist das Entscheidende. Wir wollten das Stück machen, um über den Aufstieg der rechten Partei «Goldene Morgenröte» in Griechenland zu sprechen. Und auch darüber, wie vor sechs Jahren rechte Rhetorik bei uns Mainstream wurde. Beide Phänomene sieht man inzwischen auch in anderen Ländern und in den USA. Die «Goldene Morgenröte» sagte: «Wir machen das Land sauber.» Wir drehten den Satz einfach um: Wer macht denn eigentlich unser Land sauber?
Sie sind als Kind einer griechischen Putzfrau in Deutschland aufgewachsen. Wieso leben Sie heute in Griechenland ? Das Leben in Deutschland wäre ökonomisch durchaus einfacher.
Meine Mutter und schon meine Grossmutter waren Putzfrauen, sie haben bei Johnson & Johnson in Wuppertal gearbeitet. Ich bin als Ausländer aufgewachsen, aber meine Eltern wollten nicht, dass ich in Deutschland der Gastarbeitersohn bleibe - ich sage das so, obwohl es nicht politisch korrekt ist. Deshalb bin ich nach Thessaloniki um Theater zu studieren. Von 2012 bis 2015 habe ich in Berlin gelebt, aber dieses Pendeln und flexibel sein, was hier gerade so angesagt ist, hat mich nur krank gemacht. Ich musste wieder zurück, ich wollte auch wieder in meiner Muttersprache Theater machen. Und ich war einfach müde von der neoliberalen Arbeitsweise, ich war ihr Opfer . . . (lacht)
Griechenland leistet sich seit kurzem eine Schauspielerin, Lydía Koniórdou in der Rolle der Kulturministerin.
Sicher, im Stück von «Rimini Protokoll», das wir nach Baden bringen, muss ich sagen, dass ich ein «Krisengewinnler» bin . . . (lacht). Unter Koniórdou wurden dieses Jahr als erstes die 2012 gestoppten Subventionen für die freie Szene wieder ausgeschüttet, 1 Million Euro für 80 Gruppen. Das ist nicht viel Geld, aber es ist Geld.
Ist die Geste für Sie ein Hoffnungszeichen?
In deutschen Medien lese ich manchmal Berichte mit dem Titel «In Griechenland geht es aufwärts!» Ich frage mich dann, wer schreibt so etwas? Es wird über Griechenland tatsächlich weniger oft berichtet, und für mich ist der Grund klar: Man interessiert sich für Griechenland nicht mehr, weil die Grexit-Angst vorbei und das gute, gesparte, heilige Geld der Deutschen, der Holländer und Littauer nicht gefährdet ist. Es muss nur wieder etwas passieren – und es wird wieder etwas passieren – , dann sind wieder «die faulen Griechen» schuld! Nein, die Krise ist nicht vorüber. Aber wir haben uns damit abgefunden, dass eine oder zwei Generationen viel ärmer leben werden.
Sind Sie Optimist oder Pessimist, was die Zukunft Ihres Landes betrifft?
Ich bin eher optimistisch. Griechenland hat in den letzten sieben Jahren 25 bis 30 Prozent seines Bruttoinlandproduktes verloren, und es gibt noch immer eine Arbeitslosenquote von über 22 Prozent. Und trotzdem, es ist ein Land, in dem das Leben weitergeht. Wir leben weiter – das ist unser Widerstand. Und obwohl das Land ökonomisch am Boden liegt, hat unser Alltag eine hohe soziale Qualität. . . aber vielleicht sage ich das auch, weil ich verliebt bin.