By Christine Wahl
12.03.2011 / Tagesspiegel
Schweißnass ist Byram Renkilhava nachts aufgewacht: Er hat geträumt, dass weltweit tausende Kinder, darunter auch seine eigenen, an einem Virus sterben. Er sollte sie dann in Säcken auf eine Müllkippe werfen.
Byram Renkilhava ist Wertstoffsammler in Istanbul – und einer der fünf Protagonisten, die im neuen Projekt des Regiekollektivs Rimini Protokoll ihre Lebensumstände, Albträume und Lieblingsbräuche offenbaren. Ihre private Existenz hängt an den Weltmarktkursen für Kupfer, Stahl, Gold, erzählen die Entsorgungsexperten in „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“ im HAU 2. Die Arbeit ist hart, denn sie konkurrieren mit den städtischen Vertragsfirmen um jeden weggeworfenen Burger-King-Karton.
Einmal mehr gelingt den Rimini-Protokollanten Helgard Haug und Daniel Wetzel in dieser Koproduktion mit der Kulturhauptstadt Istanbul die so detaillierte wie kitschfreie Nahaufnahme eines theaterfernen Milieus. Mit deutscher Übertitelung und lakonischem Witz berichten die Männer von traumatisierenden Grundschulerfahrungen, entwerfen die ideale Recyclingfirma und reflektieren ihre eigene Position auf dem globalen Arbeitsmarkt: „Wenn wir arbeiten, kommen wir anderen nicht in die Quere.“
Neuland beschreiten Haug und Wetzel indes mit der Entscheidung, die dokumentarische Theaterarbeit mitzureflektieren. Was bedeutet es eigentlich für einen Wertstoffsammler, sein Leben auf Festivalbühnen auszubreiten? Wie greift das Bühnenunternehmen in seine Existenz ein? Und welche Rolle spielen die Klischees, die jedes Milieu vom anderen hat, für die Arbeit? Die Antworten sind so aufschlussreich wie ungemütlich. Sie sind auch eine intelligente Wohltat angesichts der virulenten Regiemode, sozial randständige Milieus in unreflektierten Heilsbringerposen auf die Bühne zu holen und dabei im Sozialvoyeurismus zu landen.
Als die Rimini-Akteure von einer Probenwoche in Berlin nach Hause kamen, hatte ihre Sammelstelle geschlossen: Es war zu wenig Müll gesammelt worden.