Wer wählt mich mal wieder?

Erst Mannheim, jetzt Weimar: »Wallenstein« dokumentarisch. Regie: Rimini-Protokoll

By Hans-Dieter Schütt

16.06.2005 / Neues Deutschland

Der Dilettant ist ein starker Mensch. Er missachtet jene Regel, die seiner mangelnden Könnerschaft eigentlich den Auftritt verbietet. Er bricht das Gesetz, das ihn zum schüchternen Schweigen verurteilt. Die schauspielerische Frechheit, sich von Publikum anschauen zu lassen, nimmt er aus Kräften, die ihm die eigene Biografie liefert. Sie entfaltet diese Kräfte nicht wie eine Zugabe oder ein Geschenk, nein, es sind da Kräfte größter Notwendigkeit am Werke: Ich muss und will sein, wie ich bin, das ist Kunst genug – wenn Malen eine Kunst ist, dann ist es Einmaligkeit umso mehr. Anmaßend. Stark. Wenn Künstler Bühnen betreten, wird Kraft leicht zum Protz, beim Laien erlebt man Kraft als Problem: Da weiß einer sich nicht zu fassen und sucht freilich nach einem Ausweg. Der Ausweg heißt, wie beim Künstler: Ausdruck. So wird Kraft zur Schwäche: Ich gebe mich preis. Das ist Leistung, die hoch zählt in dieser Zeit. Rimini-Protokoll heißt das Regie-Triumvirat, das Menschen mit ihren Biografien auf die Bühne holt und so dem Theater das Theater austreibt, aber natürlich mit den Mitteln des Theaters.

Aus soziologischer Forschung, aus dem Graben und Suchen in realen Erfahrungswelten wird eine Art fantasiedurchtriebenes Dokumentarspiel, so, wie es in allen Zeiten eine negierende Reaktion der Kunst auf sich selbst gab, auf üppige Künstlichkeit, auf den Überdruss des Ästhetischen, auf die lügnerischen Bedrängungen des schönen Scheins. Man mag an das politisch nach Welt greifende Dokumentartheater von Gatti oder Weiss denken oder an eine intimere Authentizität, wie etwa Langhoffs TV-»Befragung Anna O.«, an Warnekes Spielfilmdokumentarismus, überhaupt an alle Formen der Protokolle-Literatur – bis hin zum Theater des Christoph Schlingensief, der Menschen mit Behinderungen, seltsame Leute also, zu eigenmächtigen Helden einer provozierenden Souveränität mitten in gediegenen, geheiligten Kunsträumen erhebt. »Wallenstein«. So lautet der Titel des neuen Projekts von Rimini-Protokoll; Helgard Haug und Daniel Wetzel erarbeiteten es diesmal ohne ihren Dritten im Bunde, Stefan Kaegi. Uraufführung war bei den Schiller-Tagen am Nationaltheater Mannheim, nun wird am Nationaltheater Weimar weitergespielt; eine Koproduktion. 

Es entstand ein atemberaubender Abend. Eine Drehscheibe für die Akteure, eine Wandtafel, ein Grill, eine Wand, die mit Wahlplakaten verklebt wird. Acht Männer, zwei Frauen. Überall liegen kleine Packen mit eingeschweißten gelben Reclam-Heften, »Wallenstein«. Das Drama dessen, der die Welt anhalten will. Der Träumer und Verbrecher. Himmelgucker und Höllengräber. Es geht um Aufstieg und Verrat. Soldatsein als Rettung und Ruin. Was gewinnt das Private, wenn es Politik wird; was bleibt dem, der sich an die Macht verliert. Rimini-Protokoll mag Regie führen, der Dramaturg des Stückes heißt Krieg. Natürlich kann man dem entkommen: überall Ausgänge in den Tod. Schiller. Höher geht es nicht. Der Achttausender der deutschen Klassik. Hier nun heruntergerechnet. Auf die Talsohle eines CDU-Ortsvereins: Ein Stadtrat von Mannheim, Richter Dr. Sven-Joachim Otto, will Oberbürgermeister werden, endet als Opfer parteiinterner Intrigen. Otto schildert sich, seinen Wahlkampf, etwa die Kampagne mit Bierfässchen bei Gartenpartys – ein Lehr- und Gruselstück parteipolitischer Praxis. Otto absolviert die Tragikomödie seines Karriereknicks mit bewundernswerter Kraft für tiefernste Selbstoffenbarung und einer Mischung aus angreifender Ironie und unfreiwilliger Komik.

Am Schluss Fragen ins Publikum: Wer gab mir 1999 seine Stimme? Wer litt heute Abend mit mir? Wer würde mich in der Zukunft wiederwählen? (»Naja, doch noch ein paar«). Ein tapferer Erledigter, von dem man nicht weiß, ob er wieder einsteigen wird. Das Syndrom der Süchtigkeit, wie wir es jetzt beim anhebenden Bundeswahlkampf erleben, und die wenigsten der sich jetzt Rüstenden merken ja, dass hinter ihren Bekundungen politischer Selbstlosigkeit verräterisch die selbstversorgerische Eitelkeit grinst. Der Otto-Motor. Die Sphäre des politischen Verhandlungsgeschäfts (»vor Tische las sich’s anders«) – hier sind es die Beobachtungen des Weimarer »Elephant«-Oberkellners Wolfgang Brendel am Tisch der DDR-Mächtigen und ihrer Gäste (»Ich reichte Ceausescu einen Orangensaft«). Die Liebe in so rauen Zeiten? Ist hier Rita Mitschereit, Chefin einer Seitensprung-Agentur, die auch bei den Aufführungen ihr Handy eingeschaltet lassen darf (»Meine Erreichbarkeit ist mein Kapital«); einer ihrer Kunden, sozial hoch stehend, sagte ihr: »Zu zweit einsam ist besser als allein einsam.« Der gedrungene Robert Helfert, Mannheimer Stadtamtsrat a.D. singt seine Kameradenlieder aus der Flak-Zeit. Eine geprüfte junge Astrologin, Esther Potter, gibt den horoskopischen Wetterschutz a la Seni, den die meisten aus dem Kreuzworträtsel kennen, die wenigsten aus »Wallenstein«. Der Weimarer Ralf Kirsten schildert überlegen, tief verständnisvoll für den Irrwitz der Zeitläufte seine deutsch-deutsche Odyssee: leidenschaftlicher Volkspolizist, dann zum Volksverräter gestempelt wegen Liebe zu einer ausreise»willigen« Frau, schließlich Polizeichef im bundesdeutschen Weimar; der ihn einst verhörende Major im Ministerium des Innern hieß nicht Wallenstein, aber doch wenigstens Wallendorf. Friedemann Gassner, ein Elektromeister im Schiedsrichter-Dress, zitiert unentwegt Schiller, den er daheim ebenso unentwegt auswendig lernt: Dichters Verse retteten ihn aus aller Verlorenheit, als Liebe zerbrach. Er lächelt immer sehr verlegen. Am erschütterndsten: Ein Ex-Bundeswehrsoldat, Hagen Reich, schildert den Ausbildungshorror für Auslandseinsätze, ein Quäntchen Mitgefühl zuviel macht ihn arbeitslos. Und: zwei US-amerikanische Vietnam-Veteranen, Dave Blalock und Darnell Summers – Erzählungen von einem lebenstötenden Psychoschock. Schrei. Ausbruch. Zwei Mal Tritt gegen den Würstchen-Grill. Plötzliches Zittern der Stimmen. Beben, das aus Tiefen kommt. Nixons Lager. Wallensteins Lager. Und eine Erzählung über Konsequenzen: zwei Antikriegs-Kämpfer. Im Einsatz auch für verfolgte Irak-Krieg-Deserteure.

Die eigene Notwendigkeit kultivieren, darauf läuft alles Ausdrucksgewerbe hinaus. Also: nie mit sich selber Schluss machen, alles Begegnende als Reiz empfinden, den Ausdruck so oft probieren, bis das, was mehr zu einem anderen als zu einem selbst gehört, weggelassen werden kann. Herausbringen, was ich muss. Eigensinn entwickeln. Dies alles strahlt dieses Theater von Rimini-Protokoll aus. Die Aufführung montiert die Biografien, ist fiktiv in dieser Verdichtung und Verknüpfung des Wahren, aber aller Kunstgehalt behält den Hauch des holpernd Ungelenken. Just daraus erwächst die Prüfung: Überstehen die biografischen Realien jene Distanz, die sich durch den Laiencharakter der Darstellung aufdrängt? Unbedingt: Ja. Regt sich nicht ein Widerspruch zwischen den Vorgaben eines Weltdramas und seiner assoziativen Übertragung auf diese im wahrsten Sinne des Wortes doch un-verschämte Alltäglichkeit? Unbedingt: Nein.

Acht Menschen. Sie reproduzieren Erfahrung. Sie tun es mit dem Risiko, dass daraus ein Muster wird; denn schon jede Wiederholung des Abends erhöht ja dieses Risiko. Das Muster allein wäre Kunstgewerbe. Hier aber, das wird spürbar, nimmt mit dem Risiko der Selbstdarstellung die Selbstempfindung zu. Das gelingt nur durch Vertrauen zum Risiko. Also durch Kunst. Schiller befragen. Welches Unheil an Antworten liegt in der Luft. Herr Gassner sagt mit seinem scheuen Lächeln: »Wallenstein ist trostlos.«

 
Nächste Vorstellungen im E-Werk Weimar vom 17. bis 19. Juni.

 

 


Projects

Wallenstein