By Jan Oberländer
05.04.2005 / Der Tagesspiegel
„Benutzt du manchmal einen falschen Namen am Telefon?“ fragt Honey. Sie tut das täglich. Das Callcenter, in dem sie arbeitet, befindet sich im Infinity Tower, einem Büroturm in der Techno-Stadt Salt Lake, am Rand von Kalkutta. Die Caller hier sind in amerikanischem Slang geschult, haben englische Namen angenommen, Zehntausende von ihnen verkaufen über ihre Kopfmikrofone Software oder Reisen an Kunden in aller Welt.
Honeys aktuelle Arbeitgeber aber sind nicht Siemens, die Lufthansa oder die Deutsche Bank, sondern Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die als Rimini Protokoll für ihre realitätsgespeisten Projekte bekannt sind. Mit „Deadline“ (Thema Sterbeindustrie) waren sie im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Ihre neueste Produktion „Call Cutta“, die seit Februar in Kalkutta lief und jetzt im Hebbel am Ufer gestartet ist, bringt eine verstörende Mischung aus Stadtführung, Geschichtslektion, Telefonflirt und Selbsterfahrungstrip. Alles live am Handy, im Einzelgespräch mit Honey oder einem anderen der acht Performer, die – 15 000 Kilometer und viereinhalb Stunden Zeitverschiebung entfernt – durch Berlin dirigieren: „Überquer jetzt die Straße, pass auf die Autos auf. Und gib mir das Passwort, wenn du auf der anderen Seite bist.“
Auf dem Weg durch die fünf Akte ist man überrascht, wie viele Kriegsspuren noch in der Sozialbaulandschaft Westkreuzbergs zu finden sind: Die zerbombten Bahnsteige des Anhalter Bahnhofs, Trümmerreste der Alten Philharmonie. Gleichzeitig fühlt man sich wie auf einer Schnitzeljagd: Da sind versteckte Fotos, eine Schallplatte zwischen Bahngleisen – immer neue Auslöser für ein neues Kapitel der Geschichte des indischen Unabhängigkeitskämpfers Subhas Chandra Bose. Bose wollte sein Land von den britischen Kolonialherren befreien und suchte bei Hitler Unterstützung für den Aufbau seiner Befreiungsarmee. „Hast du Feinde?“, fragt Honey, „Wer ist der Feind deines Feindes?“
Die fremde Stimme wird schnell vertraut, umso mehr, als sie ihre Tarnidentität aufgibt, ihren echten Namen nennt. Später fragt sie nach der privaten Telefonnummer, der Mailadresse. Das ist Teil des Stücks, eine inszenierte Annäherung. Trotzdem wird in diesem Moment die Performance persönlich. Man muss sich entscheiden: Will ich mich öffnen? Meine Rolle durchlässig machen? Will ich wirklich mehr erfahren über diese Person am anderen Ende der Welt?
So erzwingen Rimini Protokoll das Nachdenken über die Inszenierbarkeit von Realität. Die Künstler haben ein scharfes Auge für das „Leistungstheater“ (Daniel Wetzel) in der Postfiliale und im Cockpit, im Callcenter und im urbanen Raum. Die Bühne von „Call Cutta“ ist Kontinente entfernt. Und gleichzeitig ganz nah, im Kopf, im Ohr, in der unmittelbaren Umgebung des Publikums, das selbst zu Performern wird. In einem Innenhof, auf den hunderte Fenster blicken, schreit man das Passwort: „Ich bin dabei!“ und jemand schreit zurück „Ich auch!“ Stadt als Kunsterlebnisraum.
Das ferngesteuerte Flanieren hilft, die Stadt mit neuen Augen zu erkunden. Das Skript ist offen für eigene Entdeckungen: Das „Nie wieder Deutschland!“-Graffiti neben dem Foto eines indischen Exilsoldaten mit Reichsadler auf der Uniform, den Zettel mit der Aufschrift „Controller“ im Mülleimer, in den man greift, weil man die Anweisung missverstanden hat. Genau hier manifestiert sich das Credo der Gruppe, wie Wetzel es formuliert: „Du produzierst.“ Man macht sich sein eigenes Stück.
Diese Idee ist nicht neu. Aber so vielschichtig, wie Rimini Protokoll sie umsetzen, bleibt sie spannend. Schließlich spielen die drei Theatermacher selbst nicht nur die Parts der Regisseure, sondern auch die der Chefs. Und für die indischen Telefonarbeiter ist die Performance in „Call Cutta“ letztlich auch nur eine weitere Service-Rolle. Der Theaterbesucher bleibt Kunde, „er bezahlt und kriegt seinen Trip“, wie Wetzel sagt. Für zehn, ermäßigt sechs Euro Eintritt bekommt man eine Leistung. Die Spielanordnung ist nicht profitorientiert. Aber ohne das Outsourcing der Callcenter-Jobs wären die Telefonkosten unbezahlbar.
Bis 26. Juni im HAU 2, Hallesches Ufer 32, tgl. außer Mo u. Di, 15.30 bis 19.30 Uhr, Einzeltermin unter Tel. 259 004 27