Wenn die Verbindung abreißt

Der Roman „All right. Good night“ von Helgard Haug ist das beeindruckende literarische Debüt einer Theatermacherin

By Ulrich Seidler

31.07.2023 / Berliner Zeitung

Kunst kann nichts gutmachen in dieser Welt, aber sie kann vielleicht ein Instrument der Versöhnung mit ihr sein. Poesie hilft dort zu begreifen und weiterzugehen, wo Schmerz und Angst ihre Wände aufstellen. Schmerz und Angst werden nicht verschwinden, aber sie lassen sich besser fassen, erkennen und vielleicht bannen.

Helgard Haug, die Theatermacherin und Mitgründerin des Recherche- und Dokumentartheaters Rimini Protokoll, hat für ihr literarisches Debüt ein einfaches und geniales Bild und eine Sprache für die fortschreitende Demenz ihres Vaters gefunden. Ein Bild, das den Vorgang abstrahiert und zugleich erfahrbar und teilbar macht. Sie lässt ihn auf der ersten Seite gedanklich in ein Flugzeug steigen und wegfliegen. Ins Ungewisse. Bei dem Flugzeug handelt es sich um eine Boeing 777 der Malaysia Airlines, die beim Flug MH370 im März 2014 auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking 40 Minuten nach dem Start irgendwo über dem südchinesischen Meer einfach spurlos von den Radaren verschwand. Die letzten Worte des Piloten geben den Titel für das Buch, dessen Text zu Teilen erst als Bühneninstallation aufgeführt und zum Theatertreffen eingeladen wurde: „All right. God Night“.
Dass ein Flugzeug durch alle Funkraster fallen und einfach verschwinden kann, ist ein Mysterium, das den Hinterbliebenen der 239 verlorenen Menschen einen grausamen Raum für Fragen und Verschwörungstheorien lässt. Diese füttern den Schmerz der Hoffnung immer weiter und erlauben der Seele keinen endgültigen Abschied. Der Fall ging durch die Medien, Bücher wurden darüber geschrieben, Geheimdienste waren damit beschäftigt und gerieten selbst in Verdacht. Helgard Haug ist eine trainierte Rechercheurin, der keine Details entgehen und die auch den abwegigsten Spuren und Assoziationen folgt: Wie viele Leute verschwinden täglich? Was geht verloren, wenn Sprachen verloren gehen? So reich an Fakten und Informationen das Buch auch ist, so authentisch das Geschilderte sein mag – durch den poetischen Umgang mit seinem Material wird es zum Roman.
Die Jahre vergehen, die Spekulationen schießen ins Kraut und werden zurückgeschnitten, Angehörige werden für tot erklärt, Flugzeugteile werden gefunden, aber eine vollständige Geschichte lässt sich daraus nicht zusammensetzen. Es bleibt ein Rest in Trümmern, es gibt kein Ende. Diese nicht heilbare Trennung in Ungewissheit ist schwerer zu ertragen als die Trennung durch den Tod. Man kann sie nicht verarbeiten, aber man muss mit ihr leben.

Welche Parallelitäten und welche Spiegelungen ergeben sich nun für den Umgang mit dem Vater, dessen Persönlichkeit sich verändert, der seine Umgebung nicht mehr einordnen kann, der die Nächsten nicht wiedererkennt? Der Mensch im Flugzeug ist weg, aber die innere Verbindung kann nicht abreißen. Der Mensch mit Demenz ist noch da, aber die Verbindung zu ihm löst sich. „Du bist hier, vielleicht aber auch fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier.“ Helgard Haug kombiniert kurze Absätze und lässt das Bild immer wieder umspringen von der Flugzeuggeschichte zu den Begegnungen mit ihrem Vater. Die Sprache ist klar, ruhig und einfach, bar jeder Sentimentalität. Das Geländer der Tatsachen hilft dabei, sich in Gefilde zu begeben, wo das Denken den Boden verliert und das Leben dennoch weitergeht.


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Novel: All right. Good night.