By Mark Kalbus
08.04.2009 / heute.de
Die Daimler-Hauptversammlung 2009 verspricht, dramatischer als sonst zu werden - nicht nur wegen der Wirtschaftskrise: Die Berliner Künstlergruppe Rimini Protokoll wird 200 "Zuschauer" hineinschleusen. Rimini-Mitglied Helgard Haug erklärt warum.
heute.de: Was hat Rimini Protokoll vor?
Helgard Haug: Wir gehen mit rund 200 Zuschauern in die Hauptversammlung der Daimler AG im Berliner ICC. Dort finden wir uns nicht als Gruppe ein, sondern jeder "Theaterzuschauer" für sich. Wir empfehlen, dass man gleich morgens um 8 Uhr hingeht. Dann kommt man nämlich auch in den Saal 1 - also dorthin, wo der Vorstand und der Aufsichtsrat sind. Und dann geht es einen Tag lang ums Zuschauen.
heute.de: Welche Absicht steckt hinter der "Inszenierung"?
Haug: Für die Inszenierung ist Daimler verantwortlich. Wir beschreiben das als eine Form des parasitären Theaters. Das heißt, dass wir uns auf einen "Wirt" - also Daimler - setzen. Das Experiment, das wir durchführen wollen, lautet: Was passiert, wenn man etwas zu einem Theaterstück erklärt? Was passiert, wenn man mit einem anderen Blick auf etwas schaut, das es in der Wirklichkeit bereits als Inszenierung gibt?
heute.de: Wie muss das "Stück" verlaufen, damit Sie von einer gelungenen "Aufführung" sprechen können?
Haug: Wir gehen davon aus, dass man gar nicht viel verändern muss, damit es gelingt. Für uns zählt ja gerade das Experiment. Wir behaupten nicht, dass unsere Inszenierung um 8 Uhr anfängt. Dann fängt Daimlers Inszenierung an.
INFOBOX RIMINI PROTOKOLL_____
Rimini Protokoll ist eine Berliner Künstlergruppe. Gegründet wurde das Ensemble 1999 durch Helgard Haug (40), Stefan Kaegi (37) und Daniel Wetzel (40). Rimini Protokoll gilt als "Protagonist und Begründer eines neuen Reality-Trends auf den Bühnen" (Theater der Zeit). Die Arbeiten, die auch international Aufmerksamkeit erregt haben, finden in der bunten Zone zwischen Realität und Fiktion statt.
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heute.de: Welche Rolle wird Rimini Protokoll während des "Theaterstücks" spielen?
Haug: Wir werden vor Ort sein und so genannte Nischengespräche organisieren. Ab 13 Uhr werden wir Menschen vermitteln, die die Hauptversammlung schon seit Jahren besuchen oder dort eine bestimmte Rolle spielen - etwa kritische Daimler-Aktionäre, Vertreter von Aktien-Schutzgemeinschaften, einen Herrn, der früher im Management von Daimler saß, oder einen Theaterwissenschaftler. Alle diese Leute werden aus ihrer Perspektive mit den Zuschauern reden und ihre Fragen beantworten. Wir gehen davon aus, dass es relativ viel Gesprächsbedarf geben wird.
heute.de: Wie hat die Daimler AG darauf reagiert, dass Sie "Zuschauer" in die Hauptversammlung schleusen wollen?
Zitat
„Daimler hat sehr lange gebraucht, um zu verstehen, dass es uns wirklich nur ums Zuschauen geht.“
Haug: Wir schleusen keine Zuschauer in die Versammlung, sondern Aktionäre. Unsere Zuschauer besitzen nämlich entweder selber Aktien oder haben Wertpapiere überschrieben bekommen - das heißt, dass sie als Vertreter von Aktionären die Veranstaltung besuchen. Daimler hat sehr lange gebraucht, um zu verstehen, dass es uns wirklich nur ums Zuschauen geht. Das größte Schreckgespenst, das dem Unternehmen beim Gedanken an eine Theatergruppe durch den Kopf gegangen ist, war wohl die Angst vor Kunstaktionen. Daimler befürchtete anfangs, dass wir etwa das Rednerpult für uns beanspruchen und seiner Inszenierung noch etwas draufsetzen könnten. Es war wirklich schwierig zu vermitteln, dass es uns nur um das Betrachten der Aufführung geht. Mittlerweile ist unsere Absicht aber bei Daimler angekommen. Zuletzt haben wir sogar noch zehn Gästekarten für die Hauptversammlung geschenkt bekommen.
heute.de: Was sind das für Leute, die sich das "Daimler-Schauspiel" anschauen - Globalisierungskritiker, Feuilleton-Leser oder potentielle Daimler-Aktionäre?
Haug: Das Publikum ist sehr vielfältig: Es gibt sozusagen von allem etwas. Wir haben zum Beispiel Leute, die nur an wirtschaftlichen Vorgängen interessiert sind. Es gibt andere, die den ästhetischen Sprung mit uns machen, und in die Hauptversammlung wie in ein Theaterstück gehen. Unter den Zuschauern sind außerdem Leute, die so ihre Erfahrungen mit Aktien gemacht haben und dem Konzern kritisch gegenüber stehen. Schließlich gibt es Berlin-Touristen, die sich zuerst das Theaterstück anschauen und danach ein paar Tage Urlaub in der Hauptstadt machen wollen.
heute.de: War es schwer, 200 Leute zu finden, die sich die Hauptversammlung anschauen wollen und etliche, die ihre "Eintrittskarten" abtreten?
Zitat
„Wenn das meine Eintrittskarte in die Veranstaltung ist, kaufe ich mir eine Aktie. Der Daimler-Kurs ist im Moment ohnehin so niedrig, dass es mir nicht weh tut.“
Haug: Zuschauer zu finden, war sehr leicht. Wir mussten viele Interessenten auf eine Warteliste setzen. Aktionäre zu finden war relativ schwierig. Zurzeit haben ja viele Leute ihre Aktien verkauft. Daimler-Wertpapiere zu besitzen, ist im Moment nicht ganz so populär. Es gab aber auch Leute, die sich eigens für unser Projekt Aktien gekauft haben. Die haben sich dann gesagt: "Wenn das meine Eintrittskarte in die Veranstaltung ist, kaufe ich mir eine. Der Daimler-Kurs ist im Moment ohnehin so niedrig, dass es mir nicht weh tut." Es gab auch Aktionäre, die überhaupt nicht wussten, dass sie Daimler-Aktionäre sind - etwa Leute mit Aktien-Mischpaketen, die sie über Anlageberater erstanden hatten.
heute.de: Bereits mit dem Projekt "Deutschland 2" haben Sie sich mit Macht beziehungsweise der Inszenierung von Macht auseinandergesetzt. Was interessiert Rimini Protokoll an dem Thema?
Haug: Macht muss man ins Auge sehen. Das war bei "Deutschland 2" genauso: Auch dort ging es darum, sich dem Phänomen Macht konkret zu nähern und nicht nur durch die Massenmedien davon zu erfahren. Bei der Daimler-Hauptversammlung ist das ähnlich: Wenn man nicht Aktionär ist, darf man die Veranstaltung nicht besuchen. Nach der Rede des Vorstandsvorsitzenden sind Video- und Audioaufnahmen verboten: Die Generalaussprache darf in den Medien nicht direkt abgebildet werden. Das Ganze ist bestenfalls eine halb-öffentliche Veranstaltung. Uns ging es darum, solche Machtvorgänge zumindest für einen Teil der Öffentlichkeit zu öffnen. Auch die Theater-spezifischen Fragen sind für die Öffentlichkeit von Interesse: Wie sitzt der Vorstand die zwölf Stunden aus? Wie funktioniert das Bühnenbild? Wie wird auf einer Hauptversammlung Macht demonstriert?
heute.de: Zuletzt eine Frage nach der Gattung: Mit was müssen wir rechnen - einer Tragödie, einer Komödie oder gar absurdem Theater?
Haug: Wenn es nach Daimler geht, wird es ein ganz langweiliges Theaterstück. Wenn es nach uns geht, entdeckt man zwischen den Zeilen, wie versucht wird, eine Inszenierung flach zu halten und dramatische Höhepunkte zu verhindern. Mit anderen Worten: wie ein Konzern mit seinen Anteilseignern umgeht.