By Evelyn Beyer
02.06.2012 / Neue Presse Download PDF
BRAUNSCHWEIG. Ein kleines Prozent Braunschweig schlummert zum Schluss fest auf Mutters Arm. Egal, ob diese sich in die Gruppe für oder gegen die Todesstrafe stellt: Max (3) schläft. Auch das ist Braunschweig: die Sozialpädagogin aus Kinshasa, die geduldig ihre Kinder über die Bühne trägt.
Mit dem Stück "100 Prozent Braunschweig" wurden die Theaterformen 2012 eröffnet, damit machte das zwischen Hannover und Braunschweig pendelnde Festival seinem Namen gleich Ehre. Rimini-Protokoll, Pioniere des Dokumentartheaters, setzen Stadtstatistik in Menschen um: 100 Braunschweiger stehen für 248 867 Einwohner, 49 Prozent Männer, 51 Prozent Frauen, fünf unter sechs, 21 über 65 Jahre, sieben Nicht-Deutsche. Sie erzählen keine Geschichte – "postdramatisch" nennt sich das –, sondern lassen die Geschichten aus den Menschen sprechen.
Eine große nachtblaue Scheibe schwebt über der Bühne, die später per Projektion das Hin- und Herwogen der 100 von oben zeigt. Kinder, Alte, ein Hund, Fahrrad, Rollbrett: wuselnd ordnen sie sich nach Geschlecht, Herkunft, Wohnort, erzählen von der Ketten-Gruppenbildung, jeder brachte den nächsten mit, jeder ein Utensil. Die Anthropologin den alten Schädel, due Berufsschülerin die kasachische Flagge. Applaus und Lachen für eine Lehrerin, die "Übrigens, ich bin Single" ins Mikro flötet, einen Griechen, der "nicht pleite, sondern Informatiker" ist, piepsende Dreikäsehochs.
Einige Geschichten kehren ausführlicher wieder: Zwei Frauen erzählen berührend vom Hospiz, eine konvertierte Muslima berichtet, wie sie mit Mann als vermutlich reiche Saudi-Frau hofiert, ohne Mann für ihre Burka beschimpft wird. Und man ahnt: In allen 100 stecken Geschichten, Schicksale, die unter die Haut gehen. Man sieht sie anders, nun, da man sie kennt.
Daniel Wetzel von Rimini Protokoll arrangiert witzige Bilder Polonäsen, Gruppen auf Treppenstufen. Und wie sieht Braunschweig in den "100 Prozent" aus? Sehr harmonisch. Kein Wort über Hartz IV. Viel Musik drin und Gemeinschaftsgeist. "Fühlt Ihr Euch repräsentiert?", fragen die Darsteller gegen Ende ins Publikum. 40 Prozent heben die Hände. Gut unterhalten fühlten sich dem Applaus nach erheblich mehr.
GEWUSEL AUF DER SCHEIBE: 100 Braunschweiger stellen sich und die Stadt dar – gelungene Uraufführung. Foto: Theaterformen