By Katrin Bettina Müller
26.12.2019 / taz.de
Rimini Protokoll kann ein Jubiläum feiern. Seit 20 Jahren arbeiten die drei Regisseure Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel unter diesem Label zusammen, mal führt einer von ihnen Regie, mal zwei oder alle drei.
Konnten sie sich vorstellen, so lange als Kollektiv zu existieren, als sie, junge Absolventen der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen begannen, mit neuen Mitteln dokumentarisches Theater zu machen? „Mindestens die ersten zehn Jahre lange habe ich gedacht, das kann gar nicht auf Dauer klappen, vom Theater zu leben, das war gerade nur ein Glücksfall, dass ein Festival uns gebucht hat“, sagt Stefan Kaegi. So eine Frage habe sich ihnen gar nicht gestellt, meint Helgard Haug. „Wir sind von Stück zu Stück gewandert. Es ging nicht um Etablierung, sondern um Flexibilität und Wendigkeit“.
Ihr Jubiläum feiert die Gruppe in Berlin, zuerst im Dezember 2019 und Januar 2020 im HAU, im Maxim Gorki Theater und im Haus der Berliner Festspiele; bis Mai werden weitere Orte, wie das Grips Theater und das Haus der Kulturen der Welt miteinbezogen. Mit Berlin verbindet sie viel, auch wenn sie mit ihren Projekten weltweit unterwegs sind. Im Hinterhof vom HAU 3 ist ihr Produktionsbüro, mit sieben festen Mitarbeiterinnen, von Berlin erhalten sie Förderung. Hier zu feiern ist für sie auch eine Verneigung vor der Stadt.
Zum Gespräch treffe ich Helgard Haug in ihrem Berliner Büro, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi sind aus Hongkong per Skype zugeschaltet. Dort bereiten sie „100 % Hong Kong“ vor, ein Projekt mit 100 Bewohnern Hongkongs, die – angelehnt an statistische Daten – die Stadt repräsentieren. Vor zwölf Jahren begannen sie mit diesem Projekt in Berlin, seitdem ist es durch 39 Städte getourt. Jedes Mal entsteht mit 100 Spielern aus dem Ort der Aufführung ein Porträt der Stadt.
In Hongkong sei es gerade aufregend zu arbeiten. Nicht nur wegen der Proteste, sondern weil, wie Stefan Kaegi erzählt, 70 Prozent der Bewohner die Geschicke ihrer Stadt als tragisches Schicksal wahrnehmen, 30 Prozent nicht. Auch von diesem Riss wird „100 % Hong Kong“ handeln. Zum Jubiläum nehmen Rimini Protokoll das Stück in Berlin wieder auf: als „100 % Berlin reloaded“, teils mit alten, teils mit neuen Mitspielern. Es wird so auch zu einem Stück über die Frage, wie sich die Stadt in den letzten zwölf Jahren verändert hat.
Als ich vor 18 Jahren Redakteurin für Theater in der taz wurde, zogen mich die Projekte von Rimini Protokoll bald an. Sie hatten etwas Unaufgeregtes, Sachliches, Informatives; aber auch immer einen ästhetisch unaufdringlichen Rahmen, der auf den Inhalt des Projekts und die Bedürfnisse der Mitspielenden zugeschnitten war.
Jedes Stück schaute in ein anderes Segment von Alltag und Geschichte, sie tasteten gesellschaftliche Institutionen ab, arbeiteten mit unterschiedlichen Leuten zusammen. Mit Lkw-Fahrern, Bestattungsunternehmern, Militärs und Veteranen, Bewohnerinnen eines Altenheims, Call-Center-Mitarbeitern in Kalkutta, mit Sammlern, Anwälten und Rappern. Jeder davon brachte nicht nur Expertenwissen ein, sondern auch Leidenschaft und biografische Details, die den Blick auf das Fachwissen veränderten.
Man versteht durch Rimini Protokoll etwas mehr davon, wie sich die Welt der Arbeit umgestaltet, wie Leben und Sterben geregelt sind, wie Ideologien den Alltag beeinflussen oder wie sich die Sicherheitsindustrie herausbildet. Aber man begreift auch mehr davon, welche Fragen nicht gestellt werden. Die Fachwelt wird wieder im Alltag geerdet. Jedes Projekt, ob auf der Bühne oder als Installation, ist auch eine Form von sozialer Kommunikation, die über die Ränder des Gewohnten hinausgeht. In ihren Projekten bringen Rimini Protokoll Menschen zusammen, die sonst selten zusammenkommen.
Angetreten sind sie in einer Zeit, als in den Dramaturgien großer Theater nach Formaten gesucht wurde, um auf die Gegenwart zu reagieren. Das haben sie zu ihrem Arbeitsfeld gemacht. „Wir folgen gerne Einladungen, die Themen auf den Tisch bringen, auf die wir sonst nicht gekommen wären. Es ist gut, von außen mit einer Frage überrascht zu werden“, sagt Helgard Haug. Ein Beispiel dafür ist das Stück „win win“, an dem die drei jetzt noch arbeiten und mit dem im Mai ihr Jubiläum am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin zu Ende gehen wird.
Das HKW fragte sie, ob sie sich an einem Projekt beteiligen wollen, das über die Welt nach dem Ende der Menschheit nachdenkt. Und da fielen ihnen die Quallen ein. „Wo steht der Mensch mit seinen großen Gehirnen und den Fähigkeiten, die er in der Evolution ausgebildet hat, und was ist eigentlich mit seinem Gegenteil, den Quallen, die nicht mal ein Gehirn haben und sich evolutionär null entwickelt haben?“, beschreibt Helgard Haug den Reflexionshorizont des Stücks. „Wir gucken, was der Mensch mit seinen Fähigkeiten eigentlich an Verwüstungen angerichtet hat. Wird er lebensfähig bleiben? Während die Qualle mit erwärmten Meeren, Verschmutzung, weniger Sauerstoff, den negativen Auswirkungen von Globalisierung perfekt umgehen kann und gewinnt.“
Stefan Kaegi hat schon 2010 einen Abend mit 6.500 Heuschrecken gestaltet, die unter einer Plastikhaube in einer Wüstenlandschaft auf der Bühne lebten, bis sie später zu Zoofutter wurden. Mit dabei waren eine Astrophysikerin, ein Experte für Lebensmittel und ihre Haltbarmachung in tropischen Ländern sowie ein Spezialist der Schädlingsbekämpfung, die je eigene Geschichten über Ernährung, Ressourcen, geopolitische Machtkämpfe und Wanderbewegungen auf Grund von Nahrungsmangel wussten. In Erinnerung daran kann man auf ihr Theater mit Quallen gespannt sein.
Teil des Programms von „20 Jahre Rimini Protokoll“ ist auch das am Maxim Gorki Theater aufgeführte Stück „Granma – Posaunen aus Havanna“, das Stefan Kaegi 2019 in Kuba mit vier jungen Menschen entwickelt hat, deren Großeltern in unterschiedlichen Funktionen an der kubanischen Revolution beteiligt waren. Auf der Bühne verweben sich vier Erzählungen voll Liebe und Bewunderung, aber auch voller Zweifel und Skepsis, die ein vielschichtiges Bild der Geschichte entstehen lassen und die Fäden, die Vergangenheit und Gegenwart verbinden, äußerst fühlbar vibrieren lassen. Auch wenn man manchmal im Theater denkt, die Stücke plätscherten ein wenig dahin, bleibt am Ende doch ein starker Eindruck von den emotionalen Gestimmtheiten, die aus Familienromanen dieser Art folgen.
Neben solchen Bühnenformaten waren Rimini Protokoll aber auch immer schon Techniken gegenüber aufgeschlossen, mit denen sich Fenster in andere Lebenswelten auftun. Für das Jubiläum bringen sie erstmals „Feast of Food“ nach Berlin, eine filmische Installation, die man über eine Videobrille mit dreidimensionalen Bildern erkundet. Ganz kurz kann ich einen Ausschnitt anschauen, die Fahrt über ein Transportband in einem großen industriellen Schlachthof.
Senke ich den Kopf, sehe ich Fleischstücke auf Gittern unter mir, schaue ich nach links oder rechts, stehen da Schlachter mit Beilen und werfen Teile der nicht mehr zu erkennenden Tiere auf das Transportband. Man sieht mehr, als man real erfassen könnte – es sei denn, man wäre ein Stück Fleisch auf dem Band. Auch auf einem Fischmarkt, eine Gemüseplantage in Almería und in einer Chipsfabrik entstanden solche dreidimensionalen, visuell triggernden Aufnahmen aus der Hightech-Agrarindustrie.
Wie der Mensch die Welt verändert hat, das ist auch eine thematische Linie, die sich durch viele Rimini-Protokoll-Projekte zieht. Wie sie sich das Theater der Zukunft vorstellen, frage ich sie im Gespräch. Daniel Wetzel erzählt, dass er und Stefan Kaegi gerade in einem solchen sitzen in Hongkongs Cultural District West Kowloon: Das ist eine künstliche Insel, die im Meer aufgeschüttet wurde und auf der drei neue Theater bereits gebaut wurden, sechs weitere sind in Planung. „Aber eigentlich“, sagt Helgard Haug, „stellen wir uns kein festes Gebäude vor, eher einen Truck mit Rädern oder etwas mit Raketenantrieb.“ Schließlich bringen sie ihr Theater ja jetzt oft schon an die unterschiedlichsten Orte, an denen Menschen zusammenkommen, in Wohnzimmer oder in den Bundestag.
Noch eine andere Antwort hat Daniel Wetzel. „Wir hatten eine Klausur und haben überlegt, ob es nicht ein Stück Land sein könnte, das man über lange Zeit zu einem Aufführungsort macht und dabei auch die Pflanzen performativ in die Aufmerksamkeit rückt.“ Zumindest als Gedanke ist das schon mal gepflanzt.