War Boris Jelzin ein reicher Mann?

Und andere Fragen rund um den Kommunismus und das "Kapital" von Karl Marx: Rimini Protokoll im Schauspiel

By SYLVIA STAUDE

20.04.2007 / Frankfurter Rundschau

"Rimini Protokoll", die Jäger und Sammler unter den Theatermachern, die Regisseurstruppe, der die Normali- und Absurditäten des richtigen Lebens der spannendste Bühnenstoff sind, haben diesmal "Experten" zum Thema Marx versammelt. Während Rimini-Kollege Stefan Kaegi just mit seiner Spielzeugeisenbahn-Weltbetrachtung Mnemopark in Lissabon Station machte und bald mit der Lastkraftwagenfahrer-Performance Cargo Sofia in Dublin und Madrid sein wird, brachten Helgard Haug und Daniel Wetzel Karl Marx: Das Kapital. Erster Band zum - leider nur dreitägigen - Gastspiel ans Frankfurter Schauspiel, das Koproduzent ist. Marx-Uraufführung war im November am Düsseldorfer Schauspielhaus (siehe FR vom 7. 11. 2006).

Die bewährte Rimini-Protokoll-Inszenierungstechnik hat in Karl Marx eine optische Entsprechung: Die acht Akteure treten vor und in einer Setzkasten-Schrankwand auf, alles passt zwanglos mit allem zusammen, alles findet eine Nische. Das Statistiker und Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski kennt alle Marx-Ausgaben. Der Unternehmensberater Jochen Noth ist schon deswegen zur Teilnahme qualifiziert, weil er als junger Mann öffentlich Geld verbrannte. Ähnliches tat auch Ralph Warnholz, jahrelang: Er war Spieler. Franziska Zwerg, Übersetzerin, erzählt, dass sie zum ersten Mal im Leben einen Dispokredit erhielt, als ihre Bank erfuhr, dass sie die Memoiren Boris Jelzins übersetzt - der darin auch Überlegungen anstellt zum Thema: "Bin ich ein reicher Mann?" Und der Azubi Sascha Warnecke möchte sein Theater-Honorar für den Kampf um eine bessere Welt einsetzen.

Er vertritt in diesem Stück die Sturm-und-Drang-Jugend und wärmt einem das Herz. Überwiegend aber führt Karl Marx in die Vergangenheit, zu den 68ern, ihrem Enthusiasmus und ihren Irrtümern, dazu in die DDR, wo man glaubte, mit Werbeplakaten die Hühnerzucht voranbringen zu können. Die Dübel, an denen dieser Setzkasten hängt, sind die Lebensgeschichten der Beteiligten. Der Filmemacher Talivaldis Margevics etwa erzählt, wie er als Baby von seiner Mutter fast verkauft worden wäre: Weil sie fürchtete, er würde sonst sterben. Der Autor Ulf Mailänder gibt den Hochstapler Jürgen Harksen, über den er eine Biografie schrieb (und über Jürgen Schneider, den Frankfurtern wohlbekannt). Und der blinde Call-Center-Angestellte Christian Spremberg legt immer die passende Platte auf aus seiner riesigen Sammlung.

Es sind zwei im besten Sinn kurzweilige, Mehrwert schaffende Stunden. In denen das Publikum sogar Gelegenheit hat, im Kapital zu lesen: Für jeden wird ein Exemplar ausgeteilt, ein paar knackige, hellsichtige Textstellen sind rot angestrichen. Ach, denkt man da, sollte man nicht… Andererseits entspricht laut Statistiker Kuczynski einmal Kapital lesen 90 Mal dem kompletten Wagner- Ring. Und wie wird der Wert des Lesens im Vergleich zur Lebenszeit bestimmt?


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Karl Marx: Capital, Volume One