By Peter Hans Göpfert
28.10.2006 / Berliner Mogenpost
Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die drei gewitzten Absolventen des Theaterwissenschaftlichen Instituts in Gießen, sind unter ihrem Label "Rimini Protokoll" mit ihren Dokumentar-Inszenierungen wie mit einer Rakete im etablierten Theaterbetrieb gelandet. Sie spielen keine fertig geschriebenen Texte aus der dramatischen Bibliothek. Sie suchen das Theater in der Wirklichkeit, sie machen die Realität selbst zu Theater und holen es auf die Bühne.
Beim jüngsten Theatertreffen war "Rimini" mit seiner Reality-Adaption von Schillers "Wallenstein" dabei. Dafür hatten sie in Mannheim und in Weimar nach Leuten mit Berufen und Geschichten gesucht, die sich in Beziehung und Analogie zu Figuren und Motiven in Schillers Tragödie bringen ließen und sich dann auch noch "selbst spielten", darunter ein vormaliger CDU-Oberbürgermeister-Kandidat, den seine Fraktion im Stadtparlament bei der Wahl zum Kämmerer kalt durchfallen ließ.
In der jüngsten Koproduktion des Berliner HAU mit dem Schauspielhaus Zürich kreist "Rimini" mit Menschen, die ihre "persönlichen und singulären Geschichten" erzählen, das Motiv "Herz" ein - und zwar im chirurgischen wie im metaphorischen Sinne.
Der Titel des Abends "Blaiberg und sweetheart19" erinnert an den zweiten Patienten, dem der südafrikanische Arzt Christiaan Barnard ein fremdes Herz einpflanzte, und der damit 19 Monate lebte. Im HAU 1 erklärt jetzt etwa eine Original-Kardiotechnikerin eine Original-Herz-Lungen-Maschine. Und eine authentische Patientin, die seit fünf Jahren mit einem neuen Herzen lebt, berichtet von ihren Erfahrungen vor und nach der Operation. Ein emeritierter Veterinär-Professor erläutert die Abstoßungsprozesse bei der Transplantation von Schweine-Organen.
In Analogie erlebt der Zuschauer/-hörer etwa einen Veranstalter von Single-Events und Speedflirting-Abenden und eine Juristin, die Kontakte zu heiratswilligen Frauen aus Russland vermittelt. Bei einer ehemaligen Kantonsrätin, deren Sohn sich das Leben nahm, kommt das "Herz" gleich mehrfach ins Spiel: Sie besitzt nämlich einen Organspenderausweis und sucht online einen Lebenspartner.
Das Theaterkollektiv montiert munter die verschiedenen Herzens-Bedeutungen. Schwenkt aus dem Operationssaal zur Heiratsvermittlung, loggt die Teilnehmer auf Projektionswänden virtuell in "Second Life", das "Massen-Mehrspieler-Online-Gemeinschaftsspiel", ein und lässt uns am SMS-Austausch zwischen einem Schweizer Alkoholiker und seiner potenziellen Partnerin aus Nowosibirsk teilhaben. Neben dem sachlichen Report über die ausgefeilten Konditionen beim Transport von Spenderherzen und dem siebenminütigen "Qualitätsrating" von Frauen beim Speedflirting werden direkte Verbindungslinien gezogen.
Das ist in seinen dokumentarischen Partien interessant, in den privaten Äußerungen kurzweilig. Allein: Die Rechnung zwischen kardiologischen und gefühlsmäßigen Herzensangelegenheiten geht nicht auf. "Rimini" liefert hier allenfalls seinen speziellen Beitrag für die Talkshow-"Kultur".
Der Reiter auf einem Rodeo-Automaten demonstriert das Prinzip der Organ-Abstoßung. Und die russische Kontaktanbahnerin brät das Schweineherz des Veterinärs auf offener Bühne in der Teflonpfanne.