Verbotene Fragen an Mutter

By Daniel Hadler

14.08.2023 / Kleine Zeitung

Der Sohn im Zentrum eines mit Kreide gezogenen Kreises ist das Objekt. Ihn wollen sie auf ihre Seite ziehen, nicht nur im übertragenen Sinn: Die leibliche Mutter, reich und mächtig, ließ ihn einst in den Revolutionswirren zurück. Die Magd Grusche, arm und naiv, schenkte ihm Liebe und Prekariat. Wer hat Anspruch auf den Buben? Den Sorgerechtsstreit, auf den Bertolt Brechts „Kaukasischer Kreidekreis“ zusteuert, stellen Rimini Protokoll und Theater Hora in den Mittelpunkt einer bemerkenswerten Salzburg-Inszenierung.

Immer neu zieht das Stück seine Kreise und erprobt die Mutterfrage. Brechts simpler Dualismus zwischen Mutter und Mütterlichem respektive Blut und Liebe bricht Regisseurin Helgard Haug zugunsten einer breiteren Diskussion auf. Nach dem Motto „Alles könnte auch ganz anders sein“ verschieben die fünf kognitiv unterschiedlich stark beeinträchtigten Darsteller die Perspektiven. Nicht der zwielichtige Richter, nicht die Mutteranwärterinnen, es ist das Kind, das entscheidet und reihum fragt: „Kann es sein, dass du meine Mutter bist?“

Acht Mal wird der symbolische Kreidekreis gezogen, acht von Minhye Ko an der Marimba begleitete Erprobungen sind nötig, um sich argumentativ bis zum Kern und damit zu den an das Publikum gerichteten Fragen vorzuarbeiten: „Hättest du den armen Buben an dich genommen, wenn er vier Arme gehabt hätte?“, oder: „Wenn es so ausgesehen hätte wie ich?“, fragen die Darsteller. 

„Wie viel Theater verträgt das Stück?“, steht als Frage im Programmtext. Und tatsächlich überlässt sich diese in ihrer Einfachheit kluge Inszenierung keine Sekunde dem reinen Spiel, das zwischendurch gänzlich verschwindet: Nachdem jeder Zuschauer ein Büchlein mit Interviews und Kinderfotos der Darsteller erhält, ist in der Szene Salzburg minutenlang bloß das Blättern der Seiten zu hören. Erster Satz: „Wer bin ich eigentlich?“

Remo Beuggert leitet als Richter Azdak die Verhandlung und hält auf der Bühne begeisternd diese außergewöhnliche Schicksalsgemeinschaft zusammen. Großartig funktioniert das Wechselspiel der emotionalen Grusche (Simone Gisler) und der berechnenden Gouverneurin (Tiziana Pagliaro). Für viel Heiterkeit auf der grünen Schachbrettbühne sorgt wiederum Robin Gilly als Sohn Michael, während Simon (Simon Stuber), der Soldat, per Videoprojektion den überblickenden Außenstehenden gibt. Dessen Außenposition mag inhaltlich nicht ganz schlüssig scheinen, in Bezug auf diese menschenliebende Inszenierung ist sie es: Stuber blieb aus gesundheitlichen Gründen fern. Brechts Lehrstück über Gut und Böse wird in Salzburg mit fordernden Fragen gefüllt. Das Publikum feierte das, völlig zu Recht, mit frenetischem Beifall.


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The Caucasian Chalk Circle