Unser eigenes Spiegelbild

Kommentar zum "Prometheus in Athen"

By Olga Sella

20.07.2010 / Kathemerini, S.10

Wissen Sie, wo wir am ehesten unsere eigenen Spiegelbilder sehen? An den Stränden im ganzen Land. Dort, wo sich die Griechen entspannen und amüsieren - und vor allem: lautstark. Die Strandkleidung zeigt keine Klassenunterschiede, trägt keinen Verweis auf Bildungsniveau oder moralische Haltung. Und dennoch jeder sorgt auf seine Weise dafür, dies sichtbar zu machen: Der eine lässt seinen Nachbarn keinen Raum zur Entfaltung, der andere spielt über den Köpfen anderer Badegäste Ball, wieder ein anderer betrachtet „voller Affenliebe“ seine Sprösslinge, die ohrenbetäubenden Krach schlagen, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, einzuschreiten. Doch es gibt wie immer auch die andere Seite: Diejenigen, die auch den kleinsten Müll wegräumen, wenn sie ihre Liegematten zusammenrollen, diejenigen, die sich beim Lesen eines Buches erholen oder – ohne andere zu belästigen – Musik hören, diejenigen, die – endlich einmal – die Zeit finden, sich mit ihren Freunden zu unterhalten.

Obwohl uns diese Art von Neugriechen – genauso wie unsere eigenen Verfehlungen - vorhersehbar und vertraut sind, hatten wir am vergangenen Donnerstag erneut die Gelegenheit, unsere Spiegelbilder auf der Bühne des Herodes-Attikus-Theaters zu sehen, als Rimini Protokoll in den Gestalten von 100 Athener Bürgern Facetten und Schattierungen dieser Stadt wiederfanden. Und zum ersten Mal sahen wir Menschen, die unter uns leben – vielleicht sogar in der Wohnung nebenan – und von deren Existenz wir nichts wussten. Und wir haben sie nicht nur gesehen, sondern auch gehört, wie sie sich zu Themen der Stadt, der Gesellschaft, ihres Alltags, ihres Lebens äußerten; über die Arbeit, der sie nachgehen oder über die, der sie – als aktuell Arbeitslose - gerne nachgehen würden; darüber, wie sie ihre Rechte einfordern; darüber, womit sie ihr Leben erfüllen; über ihre Träume und ihre Ängste; über die Beziehung zu ihren Kindern und die Art, wie sie mit ihnen umgehen. Und all das ausgehend von einer antiken Tragödie, dem Gefesselten Prometheus.

Neid kroch in uns hoch auf diese deutschen Regisseure. Auf ihre Idee, auf ihre Erfindungsgabe, auf ihre Kreativität, auf die Art, wie sie die Ideen der Vergangenheit mit dem heutigen Verhalten in Verbindung brachten. Das war die intelligenteste alternative Annäherung an die antike Tragödie, die wir je gesehen haben. Nicht nur, weil sie die heutigen Athener Bürger – vom Kleinkind bis zum Hochbetagten – mit Aischylos´ Text in ein Zwiegespräch setzten, sondern weil sie eine Art und Weise gefunden haben, uns allen mit den Mitteln des Theaters Verhaltensweisen, Völker, Berufe, Meinungen und Lebenshaltungen vor Augen zu führen, die da sind und uns dennoch unbekannt sind. Diesmal, auf der Bühne des Herodes-Attikus-Theaters, waren es keine Zerrbilder. Es waren klare und gut erkennbare Spiegelbilder, die uns zeigten, was alles um uns existiert, das wir bislang nicht kannten oder woran wir bislang achtlos vorübergingen.

Olga Sella

H Kathemerini, 20.7.2010, S.10

Übersetzung: Theo Votsos

 


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Prometheus in Athens