By Martina Schürmann
13.06.2018 / Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Der Reiseführer kommentiert den Abend vom Kindersitz aus. Rasmus, elf Jahre, Berufswunsch: Bürgermeister. Das Rathaus hat er an diesem Abend schon fest im Blick: Von der Fahrerkabine des umgebauten Lastwagens aus, der ab Donnerstag wieder quer durch die Stadt fährt, vom Bahnhof Altenessen bis zur neuen Grünen Mitte.
Neben ihm sitzt Busfahrer Rudi, der eigentlich mal Metzger werden wollte. Jetzt chauffiert er Menschen, die da sitzen, wo früher Schweinehälften hingen: in einem zum rollenden Zuschauerraum umfunktionierten Truck mit großer, verspiegelter Fensterfront. Der „Rimini Protokoll“-Truck ist wieder unterwegs und bietet nach „Cargo Sofia – Essen“ und „Truck Tracks Ruhr“ zum dritten Mal zu einer Stadterkundung der besonderen Art. Wenn das berühmte Berliner Theater-Kollektiv zur Vorstellung bittet, dann werden die Regeln des Bühnenbetriebs neu geschrieben, zumindest neu hinterfragt. „Do’s & Dont’s“ heißt denn auch die aktuelle Arbeit, die sich mit den Regeln des Zusammenlebens in der Stadt, den gesellschaftlichen Freiräumen und gesetzlichen Regulierungen, den Codes und zunehmender Kontrolle beschäftigt. Was ist erlaubt und was tut man besser nicht?
Rasmus muss seinen Cockpit-Partner Rudi dann irgendwann am Abend verlassen und nach Hause. Jugendschutz. „Der Blick der Kinder interessiert uns, wie sie die Welt über Regeln definieren“, sagt Regisseurin Helgard Haug, die das Projekt speziell für Essen entwickelt hat. Während es in Berlin bei den Truck-Touren vor allem um Themen wie Verdichtung und Gentrifizierung gegangen sei, so Haug, präsentiere sich in Essen eine andere Szenerie. Die Menschen im Stadtbild scheinen manchmal wie verschluckt, verschwunden wie die Arbeit, die nach dem Ende der Kohleförderung ein seltsames Vakuum hinterlassen hat – in den Straßen und manchmal auch in den Menschen. Man sieht das, wenn der Truck seine Leinwände hochfährt und den Blick freigibt auf die Stadt im Ausschnitt. Von Pact Zollverein aus, wo der blaue Bühnenbrummi startet, geht es erst mal weiter zum Katernberger Markt, wo die wenigen Passanten zu unbewussten Teilnehmern werden in einem Theaterprojekt, das immer wieder mit der Wahrnehmung spielt. Was ist live, was kommt vom Band? Sind die Orte da draußen deckungsgleich mit den Bildern auf der Leinwand? Und was ist mit dem Kinderchor, der diese ungewöhnlichen Reise musikalisch begleitet.
Anders als bei den 2016 revierweit gestarteten Truck Tracks Ruhr, wo Hörspiele und Videoeinspielungen von Künstlern die Stadterkundungen begleiten, ist Rasmus diesmal live als Kommentator dabei. Den Blick des Elfjährigen, dessen Alltag noch von elterlichen Reglementierungen, Verboten und Benimmregeln geprägt ist, konterkariert seine 16-jährige Schwester Charlotte mit aufmüpfiger Lust. So wird es auch ein Abend zum kritischen Hinterfragen und Überschreiten von Regeln. Selbst Fahrer Rudi, der die Kreuzung sonst höchstens mal bei „kirschgrün“ überfährt, muss Grenzen ausloten und trotz Hupkonzert mitten im Kreisverkehr stehenbleiben.
Es geht auch um die Zukunft von Arbeit
Im Zeitalter der selbstfahrenden Autos, der smarten Hausgeräte und einer zunehmenden Roboter-Automatisierung geht es natürlich auch um neue Regeln des Zusammenlebens und die Zukunft von Arbeit. Rasmus ist da optimistisch. Der Automatisierungsgrad für den Beruf OB sei „mittel“. Gut möglich, dass nach seiner „Teddypartei“ noch einiges kommt.