Todesfuge, funktionalisiert

Deadline, (re)animiertes Doku-Theater an der Gessnerallee

By Daniele Muscionico

05.06.2004 / Neue Züricher Zeitung

Ein Schweizer in Deutschland, Stefan Kaegi, hat für das müffelnde Genre des Dokumentartheaters von Hochhuth oder Kipphardt eine neue Spielart gefunden. ´Deadlineª, eine Regieproduktion von Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel, eingeladen zum Theatertreffen 2004, ist eine unsentimentale Recherche mit realen Sterbe-Professionals über den alltäglichen Tod und seine Verwaltung, etwa in Zürich.

Was sprechen alle Sterbenden auf dem Totenbett? Letzte grosse Worte? Falsch. ´Sie rufen, alle rufen sieª, sagt die Krankenschwester Sabine Herfort, ´nach Mama.ª Oft tagelang. Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel, Regietalente mit definitivem Interesse für unsere definitiv letztgültige Handlung, das Sterben, stellen uns Frau Herfort nur akustisch vor; die viereinhalb anderen Stimmen, die uns durch die Todesfuge ´Deadlineª begleiten, sind mitsamt ihren letzten Gewissheiten aus Deutschland angereist, sie verbringen damit einen wesentlichen Teil ihres Lebens: die 30-jährige Vorpräparatorin Alida Schmidt, der 44-jährige Steinmetz Hilmar Gesse, der 54-jährige Bürgermeister a. D. und Stifter des Rhein-Taunus-Flammariums (eines Krematoriums) Hans-Dieter Illgner, der 49-jährige Trauerredner Olav Meyer-Sievers - und eine anonyme Trauermusikerin.

Dramaturgie der Fakten

Vor allem brennt auf der Zunge, wenn das Publikum, überrumpelt von theatraler Direktheit, betört von ausgebuffter Professionalität, nach neunzig Minuten entlassen wird: ´Waren das tatsächlich keine Schauspieler?ª Die Antwort interessiert weniger als die Frage. Was macht einen Schauspieler zum Schauspieler? Was einen Politiker zum Politiker? Was Theater zum Theater? Was ein System zum System, ein Ritual zum Ritual? Für solche Themen ist er Spezialist: der Solothurner Stefan Kaegi, der das Labeling zu seinem Label gemacht hat. Er war ´StekAGª mit seinen Performances an ungeschützten Orten im Zürich der späten neunziger Jahre; nach seinem Giessener Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Hamburg nannte er sich ´Hygiene Heuteª, seit vier Jahren ist er, mit den Mit-Giessenern Haug und Wetzel, ´Rimini Protokollª. Das Regietrio mit dem Händchen für Themeninszenierungen aus Alltagsrecherchen, hat sich unwiderruflich in die Aufmerksamkeit des Feuilletons katapultiert, als es 2002 eine Berliner Bundestagsdebatte im alten Bundestag in Bonn von Laien nachsprechen lassen wollte. ´Rimini Protokollª inszeniert das, was wir Realität nennen, nach der Dramaturgie der Fakten.

Laien (oder nicht), das Stichwort und die Frage. Sie sorgt für die Irritation, die das ambitionierte Projekt in einer Spannung hält, die in der Kommunikationsmaschine Theater selten ist. Auf der kühl mit Leuchtkästen, Screens und Vitrinen ausstaffierten Bühne werden, kühl, Geschichten erzählt - verwoben aus Sprache, Bewegung, Licht, Ton und Videoeinspielungen -, die eine Spassgesellschaft dazu bringen, ihren Spass im puren Hinhören zu entdecken. In absurder Nüchternheit kommentiert Alida Schmidt - am nackten Oberkörper von Meyer-Sievers - die sieben Vorschnitte zu jeder anatomischen Untersuchung; Hans-Dieter Illgner erzählt davon, dass er sich wünscht, in einem Fichtensarg zu liegen, weil er durch Fichtenholz seine Wunsch-Trauermusik, Dixieland, besonders gut hören kann (dazu folgt für das Publikum eine Hörprobe). Illgner wird dann, augenzwinkernd, ein Bürgermeisterbegräbnis nachstellen, an das er sich erinnert, weil es in sintflutartigen Regenfällen unterzugehen drohte. Steinmetz Gesse (Spezialist für ´Ewigkeitsfiktionenª) ist ´ein Mann der Schriftª und kommuniziert über Schrifttafeln.

Tödliche Stich-Proben


Ewigkeitsfiktionen, das letzte Stichwort. ´Rimini Protokollª nimmt sich ein emotionsgeladenes, phantasieschwangeres Tabuthema vor und reduziert es auf die pure Verwaltung des Akts: Schnitte an Leichen, die in der Anatomie zu dritt in Alkohol-Bottichen warten, das Geräusch beim Ablösen der Haut vom Fettgewebe (als ob man ein Stück Stoff zerreisst);Verwesungsspuren bei einer Stich-Grabung im hundertjährigen Familiengrab von Meyer-Sievers, sein Stress und seine Hektik, wenn die Aussegnungshalle umdekoriert werden muss. Das Shreddern der Sterbeakten, die die Krankenschwester Herfort, als ihren persönlichen, letzten Akt, erstellt hat. Was bleibt von uns, dereinst, tatsächlich nur Makulatur? ´Deadlineª ist ein Bericht über ein Mysterium, denn ausgerechnet dort, wo der Tod explizit verhandelt wird, bleibt er unfassbar, wortwörtlich. Kaegi, Haug und Wetzel lassen ihm sein Geheimnis. Besseres hätte ihm nicht passieren können. Uns womöglich auch nicht.

Zürich, Theaterhaus Gessnerallee, bis 5. Juni.


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