By Matthias Zwarg
20.10.2008 / Freie Presse Chemnitz
Chemnitz. Die Idee ist verrückt: Wie kann man "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" auf die Bühne bringen? Die Idee ist so verrückt, dass sie einen Versuch wert ist, dachte der promovierte Statistiker und Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski, der nun als einer von sieben "Experten" (der achte war beruflich verhindert) am Samstagabend auf der Bühne des Chemnitzer Schauspielhauses steht und aus seinem Leben neben und mit dem "Kapital" erzählt. Die Koproduktion von vier Theatern, unter anderem des Düsseldorfer Schauspielhauses, war im Rahmen des Festivals Begegnungen zu Gast in der Stadt, die den Akteuren dank ihres abgelegten Namens eine zusätzliche Motivation war, wie "Experte" und Ex-Maoist Jochen Noth im anschließenden Publikumsgespräch einräumt.
Unter dem gemeinsam mit Kollegen gegründeten Label "Rimini-Protokoll" machen die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel Gegenentwürfe zum dramatischen Theater, indem sie die Verbindung von Leben und Kunst nicht nur behaupten, sondern auf der Bühne darstellen - mit Erfolg bei Kritikern wie Publikum, das auch in Chemnitz überaus herzlich und heftig applaudierte. Applaudierte dem Mut, den Kapitalismus beim Namen zu nennen, was jahrelang verpönt war. Applaudierte dem blinden Schallplattensammler und Call-Center-Mitarbeiter Christian Spremberg, der nicht nur "Das Kapital" in Blindenschrift lesen kann. Applaudierte Thomas Kuczynski, der sich, 1944 geboren, fast ein Leben lang mit Marx beschäftigte, und dem jungen Revolutionär und Medienkaufmann-Azubi Sascha Warnecke, der idealistisch und stolz dem südamerikanischen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" huldigt. Applaudierte dem lettischen Filmemacher Talivaldis Margevics, dessen Eltern aus Lettland vor der Roten Armee flohen, der dann zurückkehrt in die Sowjetunion, den seine arme Mutter nicht verkaufen wollte, der später beim Aufbau des demokratischen Lettlands hilft, und seiner Übersetzerin Franziska Zwerg, die gesteht, im Jahr 2015 "Das Kapital" wohl immer noch nicht gelesen zu haben. Applaudiert dem Buchautor Ulf Mailänder, der an den Autobiografien des Leipziger Baulöwen Dr. Jürgen Schneider und des Hochstaplers Jürgen Harksen mitgeschrieben hat und kurzfristig auch noch die Rolle des verhinderten ehemaligen spielsüchtigen Ralph Warnholz übernimmt. Applaudiert dem heutigen Unternehmensberater Jochen Noth, der einst auf den 68er Barrikaden stand und Geld verbrannte.
Vielleicht applaudiert das Publikum aber auch ein wenig den eigenen Idealen, Sehnsüchten, Hoffnungen, die manchmal so fern und unerreichbar scheinen und auf der Bühne plötzlich wieder so nah sind. Vielleicht applaudiert es auch der Konsequenz einiger der Protagonisten, diesen Idealen nachzuleben und es trotzdem auch tolerant mit anderen auszuhalten. Vielleicht applaudiert es auch dem Mut, sich diesem gewaltigen Werk, dem "Kapital" zu nähern, das die kapitalistische Warenproduktion noch immer gültig erklärt und - ganz aktuell - auch die Bankenkrise zu erhellen vermag und damit ein Teil des Lebens ist. Vielleicht applaudiert es auch dem Konzept, die Kunst mit diesem wirklichen Leben zu verschränken, in einem unterhaltsam-offenen Spiel, das auch Brüche und Stockungen aushält: "Ich warte auf mein Stichwort..." Applaus für den Mut, die Welt als eine lebendige und veränderbare darzustellen, deren Schicksal wir mit unseren Biografien selbst bestimmen.
Applaus für einen Abend der "Begegnungen", der seinem Namen und seinem Anspruch gerecht wurde, Applaus für eine Begegnung mit Mehrwert, die man nicht so schnell vergisst.
Von Matthias Zwarg
Erschienen am 20.10.2008
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