By Andreas Poulakos
11.11.2011 / WDR
Statistik ist eigentlich kein besonders dankbares Thema fürs Theater. "100 Prozent Köln" im Kölner Schauspielhaus ist eine Ausnahme von der Regel. Die repräsentativ ausgesuchten 100 Laiendarsteller gaben den Zahlen bei der Premiere am Donnerstagabend (10.11.2011) ein Gesicht.
1.027.504 Menschen leben in Köln. Hundert von ihnen haben sich auf der Bühne des Schauspielhauses versammelt. Alle Altersgruppen sind dabei: Kinder, Jugendliche, Erwachsene - bis hin zu Greisen, die sich auf ihre Rollatoren stützen. Die 49 Männer und 51 Frauen spiegeln auch sonst den statistischen Durchschnitt ihrer Stadt wider: 83 haben einen deutschen Pass, 39 sind katholisch. Auch die einzelnen Stadtteile sind anteilig vertreten. "Wir sind keine Schauspieler. Wir sind ein Figur mit 100 Köpfen", stellt die bunt gewürfelte Gruppe direkt zu Beginn klar. Nur einen einzigen von ihnen haben die Regisseure (Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) für die Inszenierung ausgewählt. Dieser hat gemäß den statistischen Spielregeln den zweiten Teilnehmer aus seinem Bekanntenkreis bestimmt, der wiederum den nächsten Darsteller rekrutierte - bis mit dieser "statistischen Kettenreaktion" alle 100 Darsteller gefunden waren. Das Konzept "100 Prozent" in der Inszenierung des Theaterkollektivs Rimini Protokolle war seit 2008 in Berlin, Wien, Athen, Vancouver und Karlsruhe zu sehen. Diesmal steht jeder Darsteller stellvertretend für rund 10.000 Kölner auf der Bühne.
Name, Beruf, Stadtteil
Jeder einzelne stellt sich nun persönlich vor: Außer Name, Beruf und Stadtteil erfährt das Publikum, zu welcher Gruppe sich der Darsteller zugehörig fühlt. Da ist zum Beispiel der 33-jährige Mario, die kölsche Frohnatur. Wie alle hat er einen Gegenstand mitgebracht, an dem man ihn erkennen kann. Bei ihm ist es die Karnevalsmütze seines Vereins. Dann gibt es Jakub mit der Tabakpfeife, der eigentlich studierter Sozialpädagoge ist, aber seit Jahren als Gabelstaplerfahrer arbeitet. Der 49-Jährige hat wiederum seinen Sohn Oliver (13) gewählt, der als besonderes Erkennungszeichen auf seine "Nerd"-Brille deutet. Dann gibt es noch den Studenten Norman, der sich selbst zu der Gruppe der "Asozialen" zählt und ein Skateboard unterm Arm hat und Sedigheh aus dem Iran, die ihr Kopftuch aus Überzeugung trägt. Irgendwann ist die Kennenlernrunde beendet, und die Spiele können beginnen.
Sieben waren schon im Knast
Im Prinzip sind es lebende Diagramme, die sich nun auf der Bühne immer wieder neu anordnen. Als Antwort auf immer wieder neue Fragen gruppieren sich die Darsteller unter den Schildern "Ich" oder "Ich nicht". So erfährt man, dass etwa 20 Prozent in Köln geboren sind. Oder dass mehr als die Hälfte an einen Gott glaubt, und die überwiegende Mehrheit den Bau der Kölner Zentralmoschee befürwortet. Allerdings auch, dass eine Mehrheit nicht möchte, dass von der Moschee der Muezzin zum Gebet ruft. Die Fragen folgen keiner besonderen Ordnung - kunterbunt springen sie von Politik über Religion zu Liebe, Lust und Unlust. Nur drei von 100 sind Mitglied einer Partei, aber bestimmt rund 20 bezeichnen sich als politisch aktiv. Acht hatten schon einmal einen Burnout, zwei Drittel ist bei Facebook, und mindestens die Hälfte hat schon einmal einen Joint geraucht. Vier würden die Todesstrafe wieder einführen. Sieben waren schon einmal im Gefängnis. Rund zehn waren schon einmal im Bordell, darunter angeblich auch einige Frauen.
Ein Tag im Zeitraffer
Lustig wird es, als die Darsteller pantomimisch ihren Tagesablauf darstellen. Bei der Ansage "Zwanzig Uhr" ist das Bild noch recht homogen: Manche bedienen eine unsichtbare Fernbedienung, andere essen, spielen oder schauen fern. Zu späterer Stunde sind nur noch die Kneipengänger auf den Beinen, dann nur noch das hüpfende Partyvolk, das sich am frühen Morgen, während sich auf der Bühne die Mehrheit die Zähne putzt, erst einmal mimisch übergeben muss. In all dem großen Durcheinander ist der Klamauk eines der stärksten Bilder des Abends: grundverschiedene Lebensweisen im Zeitraffer und auf engstem Raum.
Vorbild: Mama und Papa
Manche Fragen lassen sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Zum Beispiel: "Wer ist Dein Vorbild?" Als Antwort packen die Darsteller Transparente und Schilder aus. Die Mehrheit gruppiert sich um die Aufschriften "Mama" und "Papa", aber es gibt auch Fans des Schalke-Spielers Hans Sarpei und eine kleine, rein weibliche Fraktion, die sich "Mutter Courage" als Vorbild gewählt hat. Manchmal halten die Darsteller auch verschiedenfarbige Fächer hoch, um aus bis zu vier möglichen Antworten zu wählen. Atempausen gibt es nur wenige. Zum Beispiel, als sich rund ein Dutzend Darsteller auf die Frage, wer schon einmal einen Krieg miterlebt hat, in der Mitte der Bühne treffen. Dabei sind natürlich die Senioren, aber auch einige junge Migranten. Dann berichtet der 84-jährige Helmut stockend von seiner Zeit als russischer Kriegsgefangener und wie es ihn nach Köln verschlagen hat.
Knapp zwei Stunden dauert die Flut von Zahlen zu jedem erdenklichen Thema. Zum Ende hin zeigen einige Zuschauer deutliche Symptome der Erschöpfung, vielleicht auch, weil die Bilder auf der Bühne mit der Zeit etwas eintönig werden. Dann ist das Spiel vorbei. In Erinnerung bleibt eine der ersten Fragen des Abends: "Wer hat schon einmal eine Statistik gefälscht?" Von einem Viertel des Ensembles gab es dazu ein klares Ja.