Test am Text

Rimini Protokoll, Karl Marx "Das Kapital, erster Band" Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus

By Peter Michalzik

07.11.2006 / Frankfurter Rundschau (online)

Ab und an steckt er seinen Kopf von hinten durch das Bücherregal wie durch eine Butzenscheibe. Links und rechts von seinem Gesicht ein paar blaue Bände, es sind verschiedene Ausgaben von Das Kapital, berichtet er von seinen An- und Einsichten zu diesem Buch. Unter den acht "Experten", die das Regieteam Rimini-Protokoll (in diesem Fall Helgard Haug und Daniel Wetzel) versammelt hat, ist Thomas Kuczynski so etwas wie die Verkörperung von Marx' Hauptwerk. Der Mann ist mit Vollbart, weißem Haar und gebücktem Gang ein Nachlassverwalter durch und durch, letzter Leiter des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, er schrieb über die Entschädigung von Zwangsarbeitern, er ist Marx-Editor, und er macht sich bis heute Gedanken, was für eine Ausgabe des Kapital den "Intentionen des Autors" denn am nächsten käme. Kuczynski ist eigensinnig und intellektuell - aber er ist alles andere als ein Revolutionär.

Wie Kuczynski stecken auch die anderen "Experten", einschließlich einer Marx-Büste, zwischen den vielen Büchern im Regal und werden - sozusagen als heutige Gespenster, die dem Kapital entsteigen - im Theater lebendig. Echte Menschen zwar allesamt, aber irgendwie wirken sie auch putzig wie - Gartenzwerge der Geschichte. Dabei ist es durchaus aufregend, was sie zu sagen haben: Ein Blinder liest aus einer Braille-Ausgabe des Kapital vor und erzählt dazu von seinen vielen vergeblichen Versuchen an einem TV-Quiz teilzunehmen. Ein lettischer Filmemacher berichtet, welchen Tauschwert er selbst als Baby in einem Deportationszug hatte. Und ein ehemaliger Spieler glaubt aufrichtig bis zur Selbstaufgabe an das Geld - er sagt, für welchen Preis er seine Kollegen "über die Wupper" springen lassen, sprich in die Arbeitslosigkeit entlassen würde.

Ist Wissen Macht?

Es ist eine enorme Qualität vieler Aufführungen von Rimini-Protokoll, dass sie das Cas-ting, Menschen, die zum Thema eine direkte oder indirekte Beziehung haben und genau damit auftreten, höchst intensiv und intelligent betreiben. Deswegen ist auch die Situation, die Haug und Wetzel mit den acht versammelten "Experten" entworfen haben, ein echter Testlauf für das Kapital, den Klassiker der Weltveränderung: Hat das Kapital heute noch Kraft, weltaufschließende, welterklärende, weltverändernde Kraft? Ist Wissen Macht? Und steckt im Kapital Wissen? Das hieße dann: Die Geister des Kapital wären immer noch Medizin gegen die allgegenwärtigen, mächtigeren Gespenster der Globalisierung. Oder was ist aus diesem Buch heute, nach Engels, Stalin, Castro und Sarah Wagenknecht, geworden? Eigentlich müsste es doch eine Renaissance ohnegleichen erleben, aber nichts davon, wahrscheinlich ist es heute noch mehr als einst der ungelesenste aller Klassiker. Sind wir mittlerweile nicht alle Kapitalisten, aber nicht weil wir das Kapital lesen würden, sondern weil wir so unverbrüchlich an die Macht des Kapitals glauben?

Davon erzählt diese Aufführung. Und so muss wahrscheinlich etwas Butzenscheiben- und Gartenzwerghaftes in ihr stecken, das Gespenst von damals ist heute Common Sense und Plattitüde in einem. Am ehesten noch für kleine Scherze gut. Der Tausch, der bei Marx die Arbeit abstrakt macht, wird hier "Win-Win-Situation". Schmunzeln mit Marx. Überraschen aber kann das Kapital nicht mehr. Dagegen vermag auch die leise Ironie nichts, mit der die Jahre der Kapital-Rezeption von 1944 bis heute in dieser Aufführung erzählt werden. Da hilft es auch nicht, dass sie noch besser gebaut ist, die Personen mit ihren Geschichten untereinander noch raffinierter verknüpft sind als in dem mittlerweile legendären Rimini-Wallenstein vom Sommer vergangenen Jahres. Man glaubt in Karl Marx: Das Kapital, Erster Band wirklich, für zwei Stunden in einem Theatercamp loser Marxisten dabei zu sein. Aber die Wirklichkeit, die hier aufgeschlossen wird, und darum geht es bei Rimini-Protokoll letztendlich immer, ist flacher, weniger überraschend und, ja auch darum geht es im Theater, unspektakulärer als im Wallenstein. Dass Das Kapital nicht eine der allerstärksten Arbeiten von Rimini-Protokoll ist, liegt an der Wirklichkeit und am Kapital selbst. Wir kennen auch ohne Marx das "ökonomische Bewegungsprinzip der modernen Gesellschaft" nun mal zu gut. Und es schafft keine Freiheit.

Die Schauspieler als Vertreter der Wirklichkeit sind dabei nicht kritisierbar. Gegen Ende sagt der 1986 geborene Sascha Warnecke, ein überzeugter Weltveränderer und Azubi, dass er es nicht wichtig findet, ob jemand Das Kapital gelesen hat, dass er es aber wichtig findet, die Welt zu verändern. In ihm, bei aller naiven Moral, scheint ein wenig Engagement, Zukunft, Möglichkeit auf.

Abgründig wird es zwischen moderner Welt, Kapital und Kapital nur einmal, und da hat die Regie dann doch nachgeholfen: Ulf Mailänder, Co-Autor bei den Autobiografien des einstigen Baulöwen Jürgen Schneider und des Hamburger Milliarden-Hochstaplers Jürgen Harksen, erzählt Harksens Geschichte so, als sei er selbst der Betrüger gewesen. Gier, Vertrauensseligkeit, Klüngelei und ein bewusst blindes Finanzamt haben ihm ermöglicht, Million um Million zu erschwindeln. Ist das etwa moderner Marxismus, fragt man da. Ist das eine Möglichkeit der Revolution in der individualisierten Moderne? Wer, wenn nicht Harksen, hat "das ökonomische Bewegungsprinzip" unserer Zeit aufgedeckt?

 
Düsseldorfer Schauspielhaus, Kleines Haus. Weitere Spielorte: HAU Berlin (ab 25. Januar), Schauspielhaus Zürich (ab 24. Februar),
Schauspiel Frankfurt (ab 13. April 2007).

 


Projects

Karl Marx: Capital, Volume One