By Peter Temel
01.06.2010 / Kurier at
Täglich jongliert die Gesellschaft mit Zahlen - eine amorphe Masse an Menschen will schließlich als berechenbarer Faktor eingeordnet werden, um zu Kenndaten von Kontinenten, Staaten und Städten zu kommen. Schon zur Geburt Christi musste man sich in Steuerlisten eintragen, heute gibt es jährliche Rankings, was Kriminalität, Einkommen, Gehgeschwindigkeit oder einfach Lebensqualität betrifft. Gerade in letzterer Disziplin schneidet ja Wien Jahr für Jahr sensationell ab. Erst am Dienstag wurde bekannt, dass die Donau-Metropole erneut auf Platz 1 liegt. Bei dieser "Mercer-Studie" stimmen ausschließlich Manager ab.Dass eine Stadt aber klarerweise aus viel unterschiedlicheren Bevölkerungsgruppen, Einkommensschichten, Lebensentwürfen besteht, wird dort nicht berücksichtigt. Sehr wohl aber bei "100 Prozent Wien", das am Donnerstag bei den Wiener Festwochen Premiere im Museumsquartier hatte. Die deutsch-schweizerische Künstlergruppe Rimini Protokoll hat darin das Statistische Jahrbuch der Stadt dramatisiert.Hundert Menschen sollen dabei die Stadt Wien repräsentieren. Jeder einzelne Akteur steht somit auf der Bühne für knapp 17.000 Wiener - statistisch gesehen.Ausgewählt wurden die Repräsentanten im Vorfeld in einer sogenannten "Wiener Kettenreaktion". Rimini Protokoll haben dabei lediglich den Beginn der Kette ausgewählt: einen ehemaligen Call-Center-Mitarbeiter der Statistik Austria. Dieser erklärte auf der Bühne eingangs auch das Konzept des Abends. Er selbst hat in der Kettenreaktion die zweite Person ausgewählt, diese wiederum eine dritte Person, und so weiter. Bis eine einigermaßen repräsentative Menge nach Geschlecht, Alter, Familienstand, Staatsbürgerschaft, Wohnbezirk, Religion zusammengestellt war. Stadtporträt der besonderen Art Diese hundert Personen stellten sich in Folge auf der runden, grünen Drehbühne vor: Da stand die Brigitte aus der Brigittenau, der Karl aus Kaisermühlen, der an seiner Bierflasche zu erkennen war oder Özlem aus Favoriten. An Prominenz waren der frühere Generaldirektor der Nationalbank, Heinz Kienzl, oder der frühere ORF-Washington-Korrespondent Klaus Emmerich vertreten. Das Altersspektrum reichte von dem 87-jährigen Kienzl bis zur einjährigen Amelie.Wirkt eine Vorstellungsrunde mit hundert Personen naturgemäß etwas ermüdend, so hatte sie durchaus ihren dramaturgischen Sinn. Im Publikum konnte man sich etwa Personen herauspicken, die man vielleicht mit besonderem Interesse durch den Abend verfolgt. Denn die Akteure stellten zunächst ihren typischen Tagesablauf in Wien pantomimisch dar und mussten danach Fragen zu Alltag, Einstellungen und Angewohnheiten beantworten. Dies geschah nach dem Prinzip des Kinder-TV-Klassikers "Eins, Zwei oder Drei".Da konnte sich neben den beiden Antwortmöglichkeiten "Ich" und "Ich nicht" auch ein typisch wienerisches "Schau ma amoi" dazugesellen. Gefragt wurde etwa nach gesellschaftspolitischen Themen: Wer ist für die Todesstrafe, wer für ein Burka-Verbot? Es wurden aber auch "weichere" Themen abgefragt: Wer fährt regelmäßig schwarz? Wer hatte am Tag davor einen Orgasmus? Als auch noch gefragt wurde, wer seinen Chef hasst, fühlte ma sich unweigerlich an die Probleme mit der Bekenntniskultur von facebook oder twitter erinnert.Was sonst aus keiner Statistik ablesbar ist, wurde hier live und anschaulich vorgeführt: Hier einmal ein Zögern, da ein Sich-Umentscheiden oder auch eine Antwort aus voller Überzeugung. Es "menschelte" eben. Und so wurde aus der neunzigminütigen Darbietung ein lebensfrohes Stadtporträt der besonderen Art. Spontan Dass der Frage-Vorgang und das sich Neu-Aufstellen sich mit der Zeit zwangsläufig im Kreis drehen, sollte mit kleinen Variationen behoben werden. Einige der Akteure durften kurz bei einer Fragestellung einhaken. Es gab ein "Open Mike", bei dem selbst gewählte Fragen gestellt werden durften und schließlich auch weitere Formen der Visualisierung - etwa mit Handydisplays im Dunkeln sowie grünen und weißen Schildern, die über den Kopf gehalten wurden. Die sehr schlicht aber funktional gehaltene Drehbühne wurde dabei stets von oben gefilmt.Ganz ließ sich allerdings nicht verhindern, dass sich die dramaturgische Spannung mit der Zeit erschöpfte. Aber beim nächsten Mal ("100 Prozent Wien" läuft noch bis zum 30. Mai) kann ja alles wieder ganz anders werden. Denn dieses Konzept lebt von den spontanen Assoziationen, die sich aus der Kombination der Fragestellungen ergeben. Da konnte man etwa sehen, dass nicht jeder, der in einer politischen Partei ist, auch politisch aktiv ist. Oder: Nicht jedes Mitglied einer Kirche glaubt an Gott.Daher stellt sich die Frage, wie sich die Akteure mit jeder Vorstellung an das Konzept anpassem. Werden sie sich ihre Antworten schon eher zurechtgelegt haben? Oder verändert sich das Bild, wird einiges noch einmal überdacht? So ist es schließlich auch mit dem (Stadt-)Leben. Es ist in ständiger Veränderung - so wie Statistiken. Das Publikum reagierte mit zum Teil euphorischem Applaus.