By Riccarda Cappeller
01.07.2018 / Deutscher Kulturrat
Wir befinden uns im Zwischenraum. Zwischen Imagination und Realität, dem Zuschauerraum und der Bühne, subjektiver Raumerfahrung und transitorischer Praxis, dem Expertenwissen und Alltagserfahrungen; zwischen Staat und Gesellschaft, den Regeln und Freiräumen, zwischen Beobachtung und Partizipation, Privatem und Öffentlichem, der Gegenwart und Zukunft der Stadt …
Eine Parallelwelt entstehen zu lassen, eine, die das Reale abstrahiert und aktuelle gesellschaftliche Tendenzen mit Humor und Ironie reflektiert, gehört zum Wesen des Theaters. Dass allerdings die Schauspieler keine Schauspieler sind, sondern Personen aus dem alltäglichen Berufsleben – sogenannte „Experten des Alltags“ – die, ihre Erfahrung preisgebend, eine neue Form von Wissen generieren, ist eine Arbeits- und Präsentationsweise die im dokumentarischen Theater z. B. bei der Gruppe Rimini Protokoll, aber auch anderen Gruppen wie copy & waste, Ligna oder she she pop zum Einsatz kommt. Eine andere ist es, das Schauspiel zum Interaktionszusammenhang zwischen Menschen im Hier und Jetzt zu erklären und mit Formen des Zusammenseins, temporären und alternativen Gesellschaftsentwürfen zu experimentieren. Aus sehr individuellen und fachspezifischen Perspektiven, die auf der Bühne, aber auch (mobil) im Stadtraum inszeniert werden, beobachten die Zuschauer Situationen, die miteinander vernetzt sind und in ihrer Komplexität und Überlagerung übergeordnete Fragestellungen sowie manchmal auch ein System und seine Funktionsweise definieren. Den Inszenierungen liegt eine intensive und umfassende, häufig mehrere Jahre andauernde Recherche zugrunde, aus der zusammen mit Akteuren verschiedenster Disziplinen – der Wissenschaft, Praxis und Lehre oder ausgehend von verschiedenen Stadträumen, die ein übergeordnetes Thema verbindet, ein realer Inhalt entwickelt wird – wie in einem Dokumentarfilm, nur eben hier im Theater.
Rimini Protokoll, gegründet von den Theaterwissenschaftlern Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel haben es geschafft, auch in den großen Häusern einzuziehen. In ihren Theaterproduktionen überlagern sich nicht nur die Perspektiven der Akteure, sondern auch die Handlungsräume, in die der Zuschauer mit einbezogen wird. Zwei Inszenierungen sollen hier gesondert hervorgehoben und in Kürze als politisch-architektonische Bildungsformate hinterfragt werden: „Do´s & Don´ts“, das Teil des Programms am Berliner Hebbel am Ufer war und die Besucher quer durch die Stadt zu verschiedenen Spielstätten brachte sowie „Großbaustelle“, eine Passage der Produktionsreihe Staat 1-4, die dem Haus der Kulturen der Welt viel Ansturm verschaffte. Beide Stücke suchen bewusst nach einer kritischen Betrachtungsweise der Interaktion von Mensch und Stadtraum und stellen schließlich den Einfluss der Ökonomie auf die Politik und damit die Grundlage unseres Systems sowie die gesamte Gesellschaft als Form des Zusammenlebens infrage. Als Zuschauer in dieser Theaterform nimmt man, obwohl mitten im Geschehen, die Position des genauen Beobachters ein und lernt Schritt für Schritt dazu. Es gibt zwar keine Verbindung zum klassischen Bühnenwerk als Grundlage der Stücke, dafür aber, das kann man zumindest annehmen, zur Stadtsoziologie – der Beobachtung von Raum, für die bereits Georges Perec in »Species and Spaces« von 1984 eine detaillierte Anleitung gibt, und die Nutzung dieses Raums im Alltag.
„Do’s and Don’ts“: Von Anfang an wird hier das Thema – Regelwerk und Gesetze des Stadtraums – in Kontrast zum Bühnenraum definiert und deren praktische Umsetzung während des Stücks als „performance in situ“ in städtischen Projekten 1:1 gezeigt. Die Vorstellung beginnt mit Regeln, die die Bühne beherrschen und wandert dann mit dem LKW als mobilem Zuschauerraum in die Stadt, wo auffällt, dass zwar viele Orte bekannt sind, nicht aber die Rahmenbedingungen, die ihre Nutzungsformen bestimmen. Was und wer ist wie erlaubt? Das Stück thematisiert das Zusammenleben, die Konstitution und Transformation des Raums in Bezug auf die Gesetze und Sonderregelungen für bestimmte Interessensgruppen, die ihn bedienen. Zukunftsszenarios für die Gesellschaft aus der Perspektive von Kindern, ein Blick auf rar werdende Flächen und der Hinweis auf die versteckte Privatisierung von Data-Sammel-Anlagen regen die Diskussion an dieser Stelle an und lassen spontane Raumexperimente entstehen, die eine Störung verursachen.
Die „Großbaustelle“ im Modellcharakter als Wimmelbild hingegen erschließt sich dem Besucher erst allmählich – über den Wechsel der Perspektiven und die Beobachtung Anderer im Laufe des Stücks. Immer wieder nimmt man Situationen wahr, die nicht direkt einzuordnen sind, bevor man sie aus der richtigen Perspektive „erlernt“. Folgende Erfahrungen kommen zusammen: die Tätigkeiten und Hierarchien bei Leiharbeitern, der Prüfungsvorgang eines Brandschützers, die Beziehungen und Handlungen eines Rechtsanwalts, die Forschungsmaßstäbe und -zusammenhänge eines Professors, die Denke von Investoren und der Zwiespalt von Journalisten, die im Geschehen stecken, denen aber die Hände gebunden sind. Die Inszenierung führt den Besuchern die Absurdität des Systems, das in der Nachahmung und dem Handeln ohne Hinterfragen endet, gezielt vor Augen.
Die Perspektivenvielfalt lässt das Theater Wirklichkeit artikulieren und hinterfragt sie gezielt. Es geht dabei nicht um politisches Theater, sondern um den Prozess des politischen Theater-machens; das demokratische miteinander Agieren, die Reaktion auf prädeterminierte Räume und den gedachten oder zumindest teilweise realisierten Boykott gegenüber Machtverhältnissen. Außerdem spielt das gemeinsame Akkumulieren und Austauschen von Wissen eine bedeutende Rolle – damit ist nicht ein auf Zahlen und Fakten beruhendes Wissen gemeint, sondern vielmehr eines, das sich auf Erfahrung und Praxis bezieht, das durch Beobachtung und Austausch, ja durch den Vergleich von Situationen wächst und durch Kommunikation und gemeinsames Handeln weitergegeben wird. „Wir sind während einer solchen Aufführung an der Theatralität unserer Gesellschaft interessiert, an den Zeichen, aber auch an den utopischen Potenzialen unseres temporären Zusammenseins“, so Stefan Kaegi von Rimini Protokoll. Genau das ist es auch, was es spannend und gleichzeitig lehrreich macht: zum einen der Bezug zur Realität, den echten Regeln und deren fantasievolle Verknüpfung mit etwas, das wir oft nicht fassen können, ja gar nicht begreifen; oder, zum anderen, die individuelle Annäherung an die Erklärung eines Systems, das zu komplex erscheint – eine Exkursion durch die Stadt oder ein Fachmensch, der seine Arbeit und die Zusammenhänge erklärt und dabei durch bedacht gewählten Situationen ein sehr klares Bild der Politik dahinter zeigt, ohne diese überhaupt anzusprechen.
Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 04/2018 erschienen.