By Ute Büsing
10.01.2020 / www.rbb24.de
Eine Stadt bildet sich ab mit all ihren Übereinstimmungen, Verwerfungen, Überschneidungen. Nicht unbedingt exakt so wie es im Statistischen Jahrbuch steht, wenngleich so angelegt, aber tiefensympathisch. So war das vor zwölf Jahren bei der Uraufführung. So ist es heute wieder. "100% Berlin" werden von jedem einzelnen der 100 ausgewählten Durchschnitts-Berliner, die jetzt auf der Bühne im Kreis stehen, spielerisch gebildet: Alter, Geschlecht, Wohnbezirk, Familienstand, Nationalität, danach wurden sie für die Zusammensetzung in der Stadt als Repräsentanten gecastet.
42 Teilnehmer haben schon vor zwölf Jahren bei der Uraufführung mitgemacht. In ihnen spiegelt sich am deutlichsten die Veränderung. Aus dem Baby im Bauch der Mutter ist ein aktiv teilnehmender Junge geworden. Die Älteren, damals noch im Berufsleben, sind jetzt in Rente. Für Verstorbene, Weggezogene oder nicht zur erneuten Teilnahme bereite sind Neue hinzugekommen. Viele Migranten machen mit, so wie die Stadt insgesamt, so die Diagnose, bunter geworden ist.
Es gibt 300.000 Einwohner mehr als vor zwölf Jahren. 20 Prozent der Berliner haben heute einen ausländischen Pass, damals waren es noch halb so viele. Die Reloaded-Variante von "100% Berlin" zeigt Profilveränderungen und Perspektivwechsel. In ihrem Selbstverständigungstreiben auf der Bühne machen die Vorzeige-Durchschnittsberliner aber auch fast drastisch deutlich, was sich in der Metropole zum Schlechten verändert hat: Berlin ist dreckiger, lauter, aggressiver, Handy-gesteuerter geworden, bekunden fast alle. Immobilienwucher und prekäre Mietsituation spielen verstärkt eine Rolle im Großstadtpoker. Bestimmt 80 der 100 Repräsentanten sind dafür, große Wohnungsbaukonzerne zu enteignen.
Wie steht Ihr zum Klimawandel?, werden sie gefragt. Verzichtet Ihr auf Flugreisen? Wie viele von Euch leben vegetarisch? Dazu finden sich unter den "Ich"-Schildern größere Gruppen zusammen als unter "Ich nicht". Da ist keine geheime Gedankenpolizei am Werk. Es geht ja jedenfalls dem Anschein nach um Statistik. Auch bei den sehr persönlichen Bekenntnissen zu Krebs, schlimmer Verschuldung und Knasterfahrung. Da gruppieren sich nur wenige Ichs. Ebenso beim Bekenntnis zur Todesstrafe oder zu wiederholter Gewaltanwendung. Es gehört Mut dazu, sich für diesen Teil der lebendigen Statistik öffentlich hinzustellen.
"100% Stadt" ist eine der dauerhaften Modellinszenierungen von Rimini Protokoll geworden. Ein Exportschlager. Inzwischen waren Metropolen-Porträts, wie sie in Berlin ihren Ausgangspunkt hatten, in 39 Städten zu sehen. Gerade erkunden Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel das Terrain für "100% Hongkong". Immer arbeiten sie vor Ort mit Statistikern und gesellschaftlich relevanten Gruppierungen zusammen, um das, was sie eine "statistische Kettenreaktion" nennen, in Gang zu setzen.
Zusammengefunden haben die Dokumentartheatermacher am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen. Seit 20 Jahren erkunden sie in wechselnden Konstellationen Stadträume und gesellschaftliche Institutionen, militärische Einrichtungen und Zivilgesellschaft, Arbeiten, Leben und Sterben in der globalisierten Welt. Stets arbeiten sie dabei mit so genannten "Experten des Alltags" zusammen.
Ihr Jubiläum feiert die Gruppe im HAU, wo auch die begehbaren "Situation Rooms" über den Waffenhandel wieder aufgebaut sind, im Gorki Theater (dort ist die Kuba-Erkundung "Granma – Posaunen aus Havanna" zu sehen), im Haus der Berliner Festspiele ("Uncanny Valleys") und im Grips Theater („Bubble Jam – Eine Cloudperformance mit Smartphones“). Zum Abschluss geht es im Haus der Kulturen der Welt ums Überleben nach dem Ende der Menschheit (in "Win Win" wird in Zusammenarbeit mit Meeresbiologen Quallen nachgespürt).
Berliner sprechen gerne schlecht über ihre Stadt, sie motzen. Das ist auch in "100% Reloaded" wieder zu sehen. Wie die bunt zusammengewürfelten Hundert allerdings miteinander umgehen, sich mit kleinen Gesten stärken und stützen, sich bei den Händen nehmen, das hat anrührende Momente.
Zur Stimmungssteigerung spielt die Band "Di Grine Kuzine" auf und befeuert die statistische Kettenreaktion. Mit gut zwei Stunden ist diese Revision von "100% Berlin" zwar etwas länglich. Aber so ist das vielleicht bei Selbstverständigungsritualen, an denen das Publikum gegen Ende auch aktiv teilnimmt.