By Monika Mertl
29.05.2010 / Stuttgarter Zeitung
Auf die prägnante Formel "Rot, ich weiß, Rot" hat der Dichter Ernst Jandl einst das Wesen der österreichischen Nation gebracht - und mit diesen vier Worten eine politische Dimension aufgerissen. In Grün-Weiß hingegen präsentiert sich die jüngste Performance der deutsch-schweizerischen Gruppe Rimini Protokoll, die im Auftrag der Wiener Festwochen das Phänomen Wien mit den Mitteln der Statistik zu erfassen sucht. Und diese Farbgebung, die man allenfalls als Sympathiekundgebung für den Fußballklub Rapid interpretieren könnte, signalisiert die Harmlosigkeit des Unternehmens, das eigentlich brisant sein könnte. Rimini Protokoll steht ja für jene am Puls des "wirklichen Lebens" angesiedelte Form des Readymade-Theaters, bei dem "Spezialisten des Alltags", also Menschen wie du und ich, in eigenen Worten zu gesellschaftlich relevanten Themen Stellung beziehen. Im Gegensatz zu anderen Projekten hat das Regietrio für "100 Prozent Wien" nur einen Darsteller selbst gewählt: einen netten, eloquenten jungen Mann, der vier Jahre für das Statistische Zentralamt tätig war; er erläutert eingangs das Prinzip, nach dem die Aufführung erarbeitet wurde. Die restlichen 99 Personen, die nach und nach auf die Drehbühne im Wiener Museumsquartier kommen und sich mit wenigen Worten und einem charakterisierenden Gegenstand präsentieren, wurden in einer ziemlich komplizierten "Kettenreaktion" durch die Mitspieler untereinander ermittelt. Die lange Auftrittssequenz zählt zu den reizvollen Passagen der eineinhalb Stunden dauernden Darbietung: Es ist spannend und amüsant, so viele Individuen verschiedenster Herkunft (und in statistisch relevanter Zahl auch mit nicht-österreichischem Pass) in rascher Abfolge wahrzunehmen. Und wenn sich ein Vierjähriger beherzt als Kindergartenkind vorstellt und dabei sein Plüschtier an sich presst, verfehlt das nicht seine Wirkung. Doch dann beginnt das Spiel vom Fragen, in dem sich die Menge der Hundert entsprechend der Antwort "Ich" oder "Ich nicht" ständig neu aufgliedert. Von Unverbindlichem wie "Lieben Sie Musik?" oder "Hatten Sie schon einmal zehn Welpen?" über leicht Prickelndes wie "Haben Sie Schulden?" oder "Wer ist ohne Vater aufgewachsen?" geht es ans Eingemachte: "Waren Sie schon einmal im Gefängnis?" und "Würden Sie jemanden töten?" Das leise Gruseln, das sich einstellt, wenn die Statistik hierzu konkrete Gestalt annimmt, mündet in eine philosophische Stimmung, denn zuletzt geht es um Prognosen zur Lebenserwartung. Werden es noch zehn Jahre sein oder noch dreißig? Mit dem abschließenden Statement "Wir sind morgen noch da", dem auch der alte Mann mit der Gehhilfe zustimmen kann, sind endlich hundert Prozent Einigkeit erreicht. So kommt man ins Ziel - die Balkan-Band Fatima Spar and the Freedom Fries sorgt für ein fetziges Finale. Die Geschichte ist insgesamt abwechslungsreich choreografiert, wobei die textfreien Passagen, in denen es nur auf die Aktion ankommt, doch etwas unbeholfen wirken. Stets spürbar ist dabei der Respekt vor den Mitwirkenden, die einen Teil ihrer Identität preisgeben. Ab und zu kann man ein Schicksal erahnen, das berührt. Der Abend ist aber auch reichlich banal - wie das Leben eben. Was er über Wien erzählt, können Nicht-Wiener vielleicht besser beurteilen als die in Wien geborene und lebende Rezensentin. Dass die Stadt ein großer Schmelztiegel an der Schnittstelle zum Osten ist und dass das ewige Konfliktthema Integration in der Praxis vielfach blendend bewältigt wird, kommt immerhin klar und ganz unaufgeregt zum Ausdruck. Der offensichtliche Spaß, den die Teilnehmer an der Sache hatten, übertrug sich spontan aufs Publikum. Nur der einzig unfreiwillig Mitwirkende hatte gar keinen Spaß: der lammfromme Retriever, der den Trubel mit ängstlich eingekniffenem Schwanz erduldete. Dass sein Frauchen ihn mitgebracht hatte, ist freilich auch eine Aussage über Wien, die sich statistisch untermauern ließe.