Selbstorganisation und Interaktion in performances

Zu schön, um wahr zu sein: Selbstorganisation im Ungunstraum

By MARKUS WEßENDORF

01.05.1997 / aus: Gabriele Brandstetter , Helga Finter u.a. (Hg.):Grenzgänge. Theater und die anderen Künste. Tübingen: Narr, 1997, S.136-143.


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Ich möchte jetzt auf die Frankfurter Aufführung Etappe: Zu schön, um wahr zu sein der Gruppe Haug / Droß / Wetzel eingehen, die seit 1994 verschiedene Projekte unter dem Label Ungunstraum. Alles zu seiner Zeit erarbeitet hat.

In der Aufführung von Haug / Droß / Wetzel sieht man drei Operateure, die live auf der Bühne klang- und Bildmaterialien mischen und dieses zudem durch verschiedene Filter schicken. Videoaufnahmen eines Riesenrads bei Nacht. Die gleitende Bewegung eines Krans über verschiedene Container, aus der Perspektive des Krans aufgenommen. Aufnahmen der Operateure selbst, die sich vor der Kamera auf einem Bürostuhl im Kreis drehen. Eine Spielzeugeisenbahn, die auf einem kleinen Tisch am vorderen Bühnenrand installiert ist, fährt auf einer geraden Schiene hin- und zurück, und erzeugt an den jeweiligen Einschnitt- und Wendepunkten ein klickendes Geräusch. Zwei Pulte sind vorne aufgebaut, an denen die Operateure Kabel umstecken, was zu jeweils anderen Bild- und Klangzuordnungen führt. Eine Kamera ist auf eine der stöpselnden Hände gerichtet und wird gelegentlich auf einem der Monitore bzw. auf einer der im Hintergrund von der Decke hängenden Leinwände gezeigt. Einer der Operateure läßt sich das Video mit dem Riesenrad per Mini-Beamer auf seine Hand zu projizieren, was man wiederum als Bild auf einem der Monitore sehen kann.

Die Performer sind Operateure. Wie sie selbst von sich sagen, „spielen“ sie nicht auf der Bühne, sondern sie „bedienen“ – technische Geräte. Ihre Funktion besteht im Schalten und Stöpseln, im Herstellen von Verbindungen zwischen verschiedenen Medien, audiovisuellen Archiven und Zuschaltungen. Die Gruppenmitglieder räumen ein, dass es für sie zwar bessere und schlechtere Aufführungen gibt, bestehen aber darauf, dass für das Scheitern eines Projektes die „Fallhöhe“ zu gering sei. Dies erklärt sich aus dem Selbstverständnis der Gruppe, deren Arbeit sich dahingehend als selbstorganisierendes System begreifen lässt, als es keinen Regisseur und keine vorgegebenen Konzepte gibt, die inszeniert würden, sondern die Aufführungen des Ungunstraums inneren Regeln folgen, die sich mit Notwendigkeit aus dem szenischen Material ergeben. Der nächste künstlerische Schritt – sowohl in der konkreten Aufführung als auch allgemein im Arbeitsprozeß – resultiert jeweils immanent aus der gegebenen Situation. Dabei geht es nicht um eine aktive und intentionale Gestaltung von Material, sondern um eine Haltung der schwebenden Aufmerksamkeit, in der Material erst hervortreten kann. Die Gruppe bezeichnet diesen Prozeß als „Objektivierung“. So gilt z.B. für die Räume, in denen Haug / Droß /Wetzel arbeiten und auftreten, als wesentlich, „dass sie eine Liste abwerfen.“ Die entspannte Haltung ist aber auch wichtig, um möglichst felxibel auf sogenannte „mobile Problemfelder“ reagieren zu können. Jede Aufführung ist Teil einer Serie (sogenannten „Etappen“) und übernimmt Material aus vorangegangenen Aufführungen. Es findet somit ein permanentes re-entry der Ausgangsbedingungen in die Performance statt, die sich dadurch stets erneut verschieben. Haug / Droß / Wetzel arbeiten mit einfachen ästhetischen Entscheidungssituationen (z.B. Bewegungsmeldern), die jeweils eine Kette weiterer Entscheidungen nach sich ziehen. In den Aufführungen geht es für die Performer darum, durch ein Verfahren des Ausprobierens und Verwerfens einen für sie selbst interessanten ästhetischen Aufführungstext herzustellen.

Im Unterschied zu Forsythe arbeiten Haug / Droß / Wetzel mit eher unaufwendigem technischen Equipment. Hier steht nicht die Signalmanipulation in Echtzeit im Vordergrund, sondern der Versuch, Formen von Interaktivität mit anderen und einfacheren Mitteln herzustellen. Geht es bei Forsythe um die Vermittlung verschiedener Textebenen über digitale Schnittstellen, so wird in den Performances von Haug / Droß / Wetzel gerade der Umgang mit den Medien selbst zu zentralen Aktion. Die Medien sind dabei jedoch nicht aus der menschlichen Steuerung entlassen, sondern ihre Schaltungen und Verknüpfungen werden deutlich – Schritt für Schritt – auf der Bühne vorgeführt. Die eventuell unvorhergesehene Ereignisse produzierende Komplexität des Aufführungstextes resultiert hier nicht aus einem Feedback verschiedener Eingangssignale, sondern aus der medialen Interaktion der Performer . Zum Ereignis wird diese Interaktion vor allem dann, wenn sich die Performer auf Unwägbarkeiten, Entscheidungs- und Zufallsmomente einlassen, in denen ihnen die Kontrolle jeweils bis zu einem bestimmten Moment entgleitet.