By Tobias Becker, Wolfgang Höbel
28.12.2009 / DER SPIEGEL, Download PDF
Es war ein steinalter Stoff, an dem sich im deutschsprachigen Theater die Geister schieden. Die Story des Streitobjekts stammt aus dem Dreißigjährigen Krieg und handelt von deutschem Anführerehrgeiz und Verrat, von Heldenmut, Kuppelei und enttäuschter Leidenschaft; und dazu vom Größenwahn eines Dichters. Der „Wallenstein“ ist sicher nicht
Friedrich Schillers bestes Stück, aber sein längstes. Ein monumentales Machwerk über Aufstieg und Niedergang eines Feldherrn.
Für Freunde des altväterlichen Händefuchtelns und inbrünstigen Texthersagens war 2007 die „Wallenstein“-Aufführung des Regisseurs Peter Stein in einer Berliner Brauereihalle ein zehn Stunden langes
Freudenfest. Für all jene, die sich vom Theater eine Kraft erhoffen, die die Gesellschaft der Gegenwart aufs Korn nimmt, war der „Wallenstein“ des Berliner Theatermacher-Kollektivs Rimini Protokoll zu der Zeit das aufregendere Bühnenereignis: Gerade weil darin gar nicht vom Dreißigjährigen Krieg die Rede war, sondern von den Niederungen aktueller Politik, von professioneller Sexanbahnung im 21. Jahrhundert und von den Kriegen unserer Gegenwart.
Rimini Protokoll, das sind Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel. Sie verstehen Theater nicht als moralische Anstalt, wie Schiller es tat und Peter Stein es noch tut, sondern als soziologische Chillout-Lounge. Sie predigen nicht, sie recherchieren.
Für ihren „Wallenstein“ spürten sie zum Beispiel in Mannheim, wohin sich mehr als zwei Jahrhunderte zuvor der junge Schiller aus politischer Not geflüchtet hatte, einen verkrachten Politiker auf, dem man fast so übel mitgespielt hatte wie dem jäh in Ungnade gefallenen Feldherrn Wallenstein. Sie luden die Chefin einer Seitensprungagentur ein zu erzählen, wie ihr Gewerbe funktioniert. Und sie ließen einen US-Soldaten und einen Offiziersanwärter der Bundeswehr berichten, wie man heute zum Kämpfen gedrillt
wird.
Spektakulär unspektakuläre Dokumentaristenkunst hat die Dreierbande von Rimini Protokoll berühmt gemacht. Die Protagonisten ihres Theaters rezitieren nicht aus Werken, sondern aus ihrem Leben. Sie sind Botschafter ihrer Welterfahrung.
In „Deadline“ zum Beispiel zeigten Trauerredner ihr bizarres Können, in „Call Cutta“ indische Callcenter-Mitarbeiter und in „Blaiberg und Sweetheart 19“ Ärzte, die menschliche Herzen verpflanzen. 2002, ziemlich am Anfang ihrer Karriere, ließen Rimini Protokoll für ihr Polit-Karaoke „Deutschland 2“ in einer Schauspielhalle in Bonn-Beuel Bürger live die Bundestagsreden aus Berlin nachsprechen, die man ihnen über Kopfhörer zuspielte. Eigentlich hätte die Show im ehemaligen Bonner Parlamentsgebäude stattfinden sollen, doch der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erlaubte es nicht.
Die deutschsprachigen Bühnen waren in den vergangenen Jahren im Realitätsrausch, und die Realitätsmaschine Rimini Protokoll war der wichtigste Wegbereiter dieses Trends. Landauf, landab frönten die Bühnen dem neuen Authentizitätskult: Der Krawallregisseur Volker Lösch setzte Arbeitslose und Ex-Knackis als Laienchöre ein; Feridun Zaimoglu und Günter Senkel montierten Interviews mit radikalen jungen Musliminnen zum Stück „Schwarze Jungfrauen“; der krebserkrankte Christoph Schlingensief inszenierte in „Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ eine Art Totenmesse zu Lebzeiten, ganz real weinend und mit vielen Erinnerungsbildern aus seiner Kindheit.
Vor allem die Rimini-Produktionen passen fast zu perfekt ins Zeitalter des Web 2.0, zur Mitmachlogik von Wikipedia, You-Tube und Flickr. Sie sind User generated Theatre. Und sie sind eine Antwort auf die Reality-Formate des Fernsehens: auf Castingshows wie „Popstars“, „Deutschland sucht den Superstar“ und „Germany’s Next Topmodel“, auf Coaching-Formate wie „Die Super Nanny“ und „Raus aus den Schulden“.
Den Entblößungs-Shows des Jahrzehnts setzen die Rimini-Macher eine Dramaturgie der Fürsorge entgegen; ausgestellt wird bei ihnen niemand. Sie sprechen daher etwas hochtrabend von „Experten des Alltags“, nicht von Laien. Die Experten verschaffen dem Kulturbürger im Parkett Einblicke in Lebenswelten, die ihm fremd sind, sie lindern einen Mangel an Erfahrung. Und gleichzeitig profitieren sie von ihren eigenen Mängeln: von ihrer Nervosität, ihren Texthängern, ihren Sprachfehlern. Vom Charme des Nicht-so-Perfekten in einer durchdesignten Welt, in der Politik zur Show verkommen ist und Identität zur Managementaufgabe.
Auch Friedrich Schillers Text spielte im „Wallenstein“ von Rimini Protokoll übrigens eine wichtige Rolle. Mehrere der Mitspieler trugen auf der Bühne das gelbe Reclamheft mit sich herum, in dem sich schöne Sätze finden, die man auch auf den aktuellen Theaterstreit um die zeitgemäße Art der „Wallenstein“- Befragung münzen kann: „Nicht was lebendig, kraftvoll sich verkündet/ Ist das gefährlich Furchtbare“, steht da zum Beispiel geschrieben. „Das ganz Gemeine ist’s, das ewig Gestrige.“
TOBIAS BECKER
WOLFGANG HÖBEL
DER SPIEGEL Nr. 53 / 2009, S.135
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-68425710.html