By Judith Helmer
20.12.2006 / Corpus
Fünf Cent pro Kilometer - so berechnet sich der normale Lohn der beiden bulgarischen Trucker Ventzislav Borissov und Nedjalko Nedjalkov, den „Experten des Alltags", wie sie in Stefan Kaegis Dokumentartheater so schön heißen. Ventzislav und Nedjalko sind die Reiseleiter der LKW-Road-Performance „Cargo Sofia" des Schweizer Theatertüftlers Kaegi vom Rimini Protokoll, das vom 19. bis 22. Dezember auf seiner Reise durch Europa, gehostet vom Tanzquartier, in Wien Station macht.
Auf eine Reise durch Europa geht man auch als Zuschauer oder, besser gesagt, Teilnehmer dieser Performance. Im vom Zauberkasten Theater ermöglichten Zeitraffer wird aus einer zweiwöchigen Fahrt von Sofia nach Wien eine knapp zweistündige Tour im zum Zuschauerraum umgebauten LKW. Aus Wiener Industriegeländen werden dabei die Vorstädte Belgrads und aus einem Fracht-Umschlagplatz im 11. Bezirk wird ein Logistikzentrum in Italien. Das ist leicht vorstellbar, ist doch diese Infrastruktur des normalerweise weitgehend vom Konsumenten ausgeblendeten Transportsystems Europas streng normiert. Container aus Japan, Österreich oder wo auch immer passen auf Trucks aus Russland, Bulgarien oder Deutschland. Tonnenschwere Frachten können scheinbar wie Figürchen auf einem Spielbrett innerhalb Europas verschoben werden. Es gibt Regeln in diesem Spiel, und es gibt solche, die sich im großen Stil nicht an die Regeln halten. Von all dem und noch viel mehr erzählt „Cargo Sofia", doch im Mittelpunkt stehen die beiden Trucker und ihre rollende Lebenswelt.
Frei fühlt sich Nedjalko nicht
Eine vier Quadratmeter große Kabine vor der Vierzig-Tonnen-Fracht ihres LKWs ist über Jahre hinweg deren mobiles Heim. Sie haben mit korrupten Polizisten und Grenzern zu tun, müssen sich an festgelegte Ruhezeiten und Geschwindigkeitsbegrenzungen halten und werden noch dazu per Satellitensystem von der Mutterfirma überwacht. „Frei?" - nein, frei fühlt sich Nedjalko nicht als Cowboy der Straße, wie eine geläufige Vorstellung den Knochenjob romantisch verklärt. Ventzislav und Nedjalko kennen die Welt, und sie unterscheiden sie anhand der lokalen Besonderheiten der Imbissbuden und Straßenbeschaffenheit. Sie kennen die zerbombten Häuserfassaden Belgrads, das Meer in Spanien und die Hitze im Iran. „Slowenien ist ein kurzes Land" und ebenso die Schweiz: „Schön, aber ganz kurz." Sie sind das letzte Glied einer globalisierten Kette, die dazu dient, Güter möglichst kostengünstig zu den Kunden zu schaffen. Um die Frachtkosten immer weiter senken zu können, bedienen sich einige Unternehmer anscheinend auch krimineller Mittel.
Einen realen Krimi aus eben diesem Stoff erzählt „Cargo Sofia" auf einer weiteren Ebene. Durch eingeblendete Meldungen im Kurznachrichtenstil erfährt man die Geschichte des deutschen Transportunternehmers Willi Betz, der noch vor der Öffnung des Ostens ins bulgarische Speditionsgeschäft eingestiegen ist und dem nach jahrelangen illegalen Machenschaften, Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe und vielen tausend unter westeuropäischem Tarif bezahlten Arbeitsstunden osteuropäischer Trucker, die seine LKW-Flotte quer durch Europa lenkten, ein Aufsehen erregender Prozess gemacht wurde.
Virtuose der Dramaturgie
Es ist ein verzweigtes, sehr weit in die persönliche Lebenswelt jedes Einzelnen hineinreichende Thema. Denn wer kennt schon die Transportgeschichte der Güter, die in seinem Einkaufswagen landen oder der Elektroteile, die in seinem Computer eingebaut sind? Wer bedenkt bei Billigangeboten die Dumpinglohnkosten, die dahinter stehen müssen?
Doch damit nicht genug, „Cargo Sofia" bietet nicht nur ein inhaltlich höchst interessantes Thema, sondern zeigt auch, zu welcher virtuosen Meisterschaft es Stefan Kaegi inzwischen auf der Klaviatur des Dokumentartheaters gebracht hat. Mit einem offenbar unfehlbaren Gespür für Metrum und Rhythmus der eingesetzten Mittel (Video, Musik, Projektionen und Ausblicke) komponiert der Theatermacher eine Sinfonie der Straße, die den Zuschauer hineinzieht und hinausschauen lässt. Ausgestellt hinter der mit Glasscheiben ausgestatteten Längsseite des LKWs wird man zum mit ungläubigen Augen angestarrten Objekt, das so gar nicht in die gewohnte Realität der Autofahrer und Passanten passen will. Dann wieder ist man selbst stiller Beobachter oder Voyeur der Wirklichkeit, die einem da von den sympathischen Reiseleitern vor Augen geführt wird. Der Clou dabei ist, dass sich in diesem Theater der Zuschauer bewegt, nicht die Bilder. Das so umgekehrte Roadmovie, das dabei herauskommt, stellt die Wahrnehmung jedes Einzelnen (drinnen wie draußen) auf den Kopf - allein das macht ziemlich viel Spaß.
Schmiergeld und Salami
100 Euro hätten unsere beiden Experten des Alltags, Ventzislav und Nedjalko, bei einem Kilometerpreis von fünf Cent auf der vorgestellten Reise von Sofia nach Wien in der Realität jeweils verdient. Sie hätten Schmiergelder aus eigener Tasche bezahlt, sich zwei Wochen lang von Konserven und Meter-Salami ernährt und in einer nicht sehr großen und nicht sehr warmen Kabine geschlafen - „Aber das ist nicht schlimm, das ist unsere Profession, nicht wahr, Kollege?" zieht Ventzislav Resümee. Das ist aber schon der einzige Hauch von Sozialkitsch, den „Cargo Sofia" ganz zum Schluss zulässt. Mit einem Wodka wird er - angekommen in Wien - hinuntergespült. Willkommen in der Realität.