By Barbara Behrendt
04.06.2014 / Theater heute Blog Mühlheimstücke
Als das Theaterkollektiv Rimini Protokoll 2007 den Mülheimer Dramatikerpreis gewann, löste das noch einmal eine Grundsatzdebatte aus: Kann ein Stück, das mit sogenannten «Experten des Alltags» entstanden ist und auch von ihnen performt wird, bei einem Autorenwettbewerb als bestes Theaterstück des Jahres ausgezeichnet werden? Mittlerweile sind diese Kämpfe um die Definition eines Stücks fast schon überholt – Rimini Protokoll werden ebenso selbstverständlich nach Mülheim eingeladen wie René Pollesch. In diesem Jahr sind Helgard Haug und Daniel Wetzel mit «Qualitätskontrolle» zum zweiten Mal für den Dramatikerpreis nominiert. Darin erzählt die vom Hals abwärts gelähmte Maria-Christina Hallwachs auf der Bühne selbst aus ihrem Leben. Heute gastiert die Produktion im Ringlokschuppen – einige Fragen vorab an die beiden Autoren und Regisseure.
Sie erarbeiten Ihre Stücke mit sogenannten «Experten des Alltags», Ihre Form des Dokumentartheaters ist jedem ein Begriff. Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele, bezeichnete diese Arbeitsweisen fernab des «stillen Kämmerleins» kürzlich als eine Art Trend: «Die wahre Zeitgenossenschaft wird kaum noch am Schreibtisch geschrieben», sagte er. Der Theaterautor sei heutzutage der Regisseur. Ihr Beitrag zu dieser Debatte?
Helgard Haug / Daniel Wetzel: Vor allem sind zur Zeit sogenannte Debatten im Trend darüber, was der Intendant der Festspiele gesagt hat. Und Debatten, in denen Antagonismen rekonstruiert werden, die es für uns in der Praxis so gar nicht gibt. Wir arbeiten schon seit zwölf Jahren so und mit jedem Projekt geht es uns auch um neue Facetten dieser Recherche-basieren Arbeitsweise. Und wir waren bestimmt nicht die ersten, und sind auch nicht die einzigen. Was immer wahre Zeitgenossenschaft sein mag, es gibt nach wie vor sehr viele gute Gründe, nicht nur im Zug, sondern auch am Schreibtisch zu schreiben. Das war auch so bei der Arbeit an «Qualitätskontrolle».
Als Sie 2007 zum ersten Mal nach Mülheim eingeladen waren und prompt den Dramatikerpreis gewannen, löste das durchaus noch heftige Diskussionen aus. Bitte noch einmal Ihre Antwort auf die oft gestellte Frage: Kann man bei einem Stück, bei dem «Experten des Alltags», also Laien, auf der Bühne aus ihrem Leben berichten, bei den «Produzenten» dieses Abends von Autorschaft sprechen?
Aber erst recht! Wir nennen die Leute, mit denen wir arbeiten, Experten, damit sie nicht Laien genannt werden. Denn es geht um ihre Erfahrungen und das, was sie uns erzählen. Das wird zum Material eines Prozesses, bei dem es immer darum geht, wie wir damit und daraus Theater machen. Und dazu gehört selbstverständlich auch, wie daraus ein Text werden kann. Wir haben diesen Text für Maria-Christina Hallwachs geschrieben, auf Basis vieler Gespräche mit ihr und Leuten aus ihrem näheren Umfeld. Aber der Text speist sich ebenso aus zahlreichen Begegnungen und Recherche-Gesprächen, bei denen sie nicht dabei sein konnte. Bei der industriellen Stecklingsproduktion, bei Getreidegenetikern, Familienberatungsstellen, Behinderten-Organisationen, Ärzten, Diagnose-Labors, Gynäkologen, Mathematikern und so weiter. Das war ein Arbeitsprozess von mehreren Monaten, in dem wir vor allem unsere eigenen Fragen geschärft haben. Außerdem entsteht so ein Text im Dialog mit anderen Projekten. Der Monolog «Black Tie» mit Miriam Yung Min Stein und die Hörspiel-Weiterentwicklung «Welcome to You» waren Projekte für uns, von denen aus wir weiter arbeiten wollten – ebenfalls mit einer jungen Frau im Zentrum. Die Texte entstehen gewissermaßen auf einen Mund ausgerichtet, dem sie angeboten werden. Der probiert das dann aus und reagiert auf den Versuch. Der Schreibprozess ist also eingebunden in Dialoge.
Was ist ein Stück? Sind Rimini-Protokoll-Produktionen nachspielbar? Dürfen Sie im Mülheimer Wettbewerb antreten?
Anders gefragt: Was wären Dinge, die einer Auwahl-Jury das Interesse versauen würden? Und ist Nachspielbarkeit wirklich noch das Kriterium? Wie spielen Sie denn so einen Jelinek- oder Pollesch-Text «nach»? Wenn diese Dichotomie noch funktionieren würde – dann wären die Mülheimer «Stücke» doch ein Texte-Festival und keins, bei dem Inszenierungen eingeladen werden. Ein grundsätzlicher Unterschied unserer Stücke zu Dramen ist, dass derjenige, der auf der Bühne «ich» sagt, sich meist tatsächlich meint – und dass er den Entstehungsprozess des Textes kennt. Sollte jemand den Text spielen wollen, würde er wahrscheinlich nicht nur unser Einverständnis, sondern auch das von Maria-Christina einholen wollen. Aber für uns ist das eine Scheindebatte – Theater bezieht seine Relevanz sicher nicht aus der Tradierung von Kunstproduktionstraditionen und sobald es ein Stadelmaier-Museum wird. Es gibt im Theater aber diese oft sehr deutlich spürbare Distanz zwischen etwas Geschriebenem und dem Sprech-Akt, der es in den Raum transferiert, daraus Gesprochenes macht und mit dem, was man sieht in Beziehung setzt. Große Teile der historischen Schauspiel-Methoden bespielen diese Distanz ja, indem sie sie verringern wollen – indem das Geschriebene im Spiel aufgehen soll. Das ist eine Pendelbewegung in der Zuschauerwahrnehmung – und im Spiel – die es bei Stücken mit Experten auch gibt. Man hört ja oft deutlich, dass da Dinge nicht spontan gesagt werden, sondern gesprochen. Auch uns geht es darum, diese Pendelbewegung zu ermöglichen – das Geschriebene wird nicht einfach abgelesen – wenngleich es Maria-Christina als Lauftext auf einem Monitor ständig zur Verfügung steht. Es soll, so weit das geht, gesagt werden. Der Text enthält einen Prototypen, der variiert wird. Zum Beispiel im Dialog mit dem Pfleger oder der Pflegerin, von denen immer einer auf der Bühne anwesend ist. Andere Passagen des Textes sind so geschrieben, dass sie eher gesprochen als spontan gesagt werden können. Insgesamt ist das ein Kunst-Text, der im Kontext seiner Verankerung entstanden ist, aber auch allein stehen kann.
Wie hat sich die Einstellung zu diesen Fragen Ihrer Erfahrung nach in den letzten Jahren im Theater verändert? Ist auch das Publikum heute mehr noch als damals an solche Art von Produktionen auf der Bühne gewöhnt?
Ja, für uns hat sich sehr zum Positiven verändert, dass mehr darüber gesprochen wird, worum es eigentlich geht und weniger immer nur um das Formale. Glücklicherweise müssen wir ja nicht entscheiden, was alles ein Stück sein darf, sondern können im Gegenteil fröhlich drauflosforschen, was für uns im Theater wichtig ist, womit wir unsere und die Zeit der Besucher verwenden wollen. Die jeweiligen akademischen Festschreibungen des Theaters sind sicherlich nicht seine Kraftquelle. Wir arbeiten daran, das auf der Bühne passieren zu lassen, was wir am wichtigsten finden. Und haben bislang die Erfahrung gemacht, dass die Leute, die noch ins Theater kommen, oder es gerade entdecken, sich mit den formalen Fragen nicht so beschäftigen. Wenn sich mal jemand über den Abend von der Text-Seite her unterhalten will, dann interessieren sich die Leute für den Prozess, wie der Text überhaupt entstanden ist. Das ist eh so ein bisschen Achziger, sich ums Theater Sorgen machen zu wollen, weil die germanistische Werkzeugkiste nicht die passenden Schlüssel zu haben scheint zu den Stücken, die gemacht werden.
Was war zuerst da: Die Idee für diesen Abend und sein Thema oder die Protagonistin? Wie sind Sie auf beides gestoßen?
So ein Projekt beginnt mit Ideen, Fragen, Gesprächen, provisorischen Bildern und dann damit, einfach loszulegen – Leute besuchen, Bücher lesen, die eigene Aufmerksamkeit wird gefiltert durch die Fragen und Geschichten, die da entstehen – die Welt sieht dann immer wieder anders aus. Und das ist eine Quelle für’s Festhalten, Notieren, dann Schreiben. Ein Ausgangspunkt war unser Interesse an Fragen rund um die Pränataldiagnostik. Aber es gab auch die Begegnung mit einem jungen Mann, der bei «100% Melbourne» mitgespielt hat, und das nur konnte, weil seine Eltern beide auch mitgespielt haben. Er hatte einen Unfall und dabei nicht nur seine Beweglichkeit, sondern auch sein Sprechvermögen stark verloren. Und es war toll, dass die Leute sich getraut haben, allen anderen zu vertrauen, dass die besonderen Umstände, die sie mit sich bringen, willkommen sind und dass alle an ihnen so interessiert sein würden wie an den anderen auch. Ein Ausgangspunkt war zum Beispiel die Idee, einen Dialog zu organisieren zwischen Leuten, die vorgeburtlich oder im Gang der Geburt eine körperliche Behinderung erfahren haben – mit Schwangeren. Daran hat uns auch interessiert, dass die Schwangeren naturgemäß nicht bei allen Aufführungen dabei sein konnten – wir also einen Text schreiben müssten für Leute, die wir noch nicht kennen: Handlungsanweisungen, Fragen, Spielstrukturen. Im Lauf vieler Gespräche, aber vor allem durch die Begegnung mit Maria-Christina hat sich alles weiterentwickelt. Ein anderer Ausgangspunkt war, wie gesagt, unsere Lust, mit der für uns sehr wichtigen und guten Erfahrung mit «Black Tie» und Miriam Yung Min Stein den Monolog einer Frau zu erarbeiten, einen zweiten Schritt zu machen.
Von einer Expertin des «Alltags» kann man bei Maria-Christina Hallwachs und ihrem erschütternden Lebensschicksal schwer sprechen. Wie hat sich Ihre Arbeit bei dieser Produktion von anderen unterschieden?
Selbstverständlich sprechen wir von ihr als einer Expertin. Was spräche dagegen? Sonst ginge es ja da schon los, aus ihrer körperlichen Behinderung eine soziale zu machen – weil wir alle so ungeübt darin sind, zwischen Hilfestellung und unnötiger Sonderbehandlung zu unterscheiden. Die übrigens oft als ungewollte Aggression empfunden wird. Rein technisch hat sich die Produktion eben den Verhältnissen angepasst, um die es ging, und das ist etwas, was wir immer suchen – den Punkt, wo das Theater erfinderisch werden muss, weil der Gegenstand es braucht. Ungewöhnlich, also wichtig und toll war die Aufgabe, jemanden mit einzubinden, der eigentlich «nur» da sein würde, weil er das Überleben der Protagonistin sichern muss – also die jeweilige Pflege-Kraft. Das war am Anfang pro Probe jemand Neues, der dann für einen halben Tag nicht nur Pfleger war, sondern der auch Regie-Anweisungen bekam. Es war das erste Mal, dass wir mit einem Menschen auf der Bühne gearbeitet haben, der jemand anderen bitten musste, wenn eine bestimmte Geste seine Worte begleiten sollten, diese Geste zu machen. Maria-Christina kann nicht nach links zeigen, also macht es die Pflegekraft. Auch dabei wurde viel ausprobiert – und viel gelacht.
Haben Sie vielleicht auch Kritik dafür erfahren, bei diesem Abend und einer solchen Sympathieträgerin von vorneherein den «Mitleidsfaktor» zu bedienen?
Nein. Das hören wir jetzt tatsächlich zum ersten Mal. Spätestens wenn man Maria-Christina dabei sieht, wie sie die Zuschauer beim Reinkommen begrüßt, merkt man vermutlich, dass es wirklich nicht um Mitleid geht. Es geht um alles andere als das. Ums Leben-Können, Leben-Wollen, und um die Entscheidungen, vor die wir gestellt werden im Prozess des Leben-Zulassens oder seiner Abtreibung. Wir sind auch nicht aus Mitleid zu Maria-Christina gegangen, sondern aus Neugier, aus Interesse und mit einem riesigen Sack unklarer Fragen. Eine Behinderung ist nicht nur einseitig – die meisten von uns sind komplett behindert im Umgang mit Leuten, die nicht alles so machen können, wie es der «Standardmensch» kann. Mit all der Unsicherheit und Vorsicht, mit der man jemandem im Rollstuhl begegnet, entsteht die Behinderung ja erst recht.