By Ulrich Fischer
19.06.2007 / www.goethe.de
Die Jury der Mülheimer Theatertage zeichnete das Dramatiker- und Regiekollektiv nach öffentlicher Diskussion in der Mülheimer Stadthalle für ihr Stück Karl Marx: Das Kapital, Erster Band aus. Das Stück war im Auftrag des Düsseldorfer Schauspielhauses und mehrerer anderer Bühnen entstanden und in Düsseldorf uraufgeführt worden. Es versucht, Schauspielinszenierung und Realität zu verbinden. Für das Stück hatten die Preisträger mit hundert Zeitgenossen gesprochen und acht ausgewählt: eine Dame und sieben Herren. Die acht erzählen auf der Bühne ihre Geschichten, alle haben mehr oder weniger mit dem Kapital zu tun.
Wichtiger Impulsgeber für modernes deutsches Theater
Rimini Protokoll war in den 90er Jahren von Studenten der angewandten Theaterwissenschaft an der Universität Gießen gegründet worden und gilt als wichtiger Impulsgeber für modernes deutsches Theater. Die Gruppe hat an mehreren Stadttheatern und zuletzt am Schauspielhaus Zürich inszeniert. Das Haus gehört ebenfalls zu den Auftraggebern des Karl-Marx-Stücks.
Thomas Kuczynski, Statistiker und Wirtschaftshistoriker, spielt dabei eine Hauptrolle: Er berichtet über sein Vorhaben, aus den drei verschiedenen Fassungen von Marx' Hauptwerk eine neue Fassung zu destillieren, die den Intentionen des Philosophen möglichst nahe kommt. Als seriöser Wissenschaftler steht er im krassen Gegensatz zu einem Hochstapler, von dem der Autor Ulf Mailänder erzählt. Mailänder hat sie für den genialen Betrüger aufgeschrieben, dem geldgierige Hamburger Millionen anvertrauten, damit er ihr Geld auf wundersame Weise rasch vermehre. Marx Kapital wird mit solchen Geschichten entdämonisiert.
Können Stücke dieser Art auch von Schauspielern gespielt werden?
Rimini Protokoll geht es um einen heiteren und gelassenen Umgang mit dem Vorreiter der Kapitalismuskritik. Indem das Stück Menschen in den Mittelpunkt rückt, will es wie Marx Partei gegen das reale Kapital ergreifen.
Kontrovers diskutierte die Jury, ob Schauspieler den aufgezeichneten Text aufführen können, ohne dass er an Authentizität verliert, ob das Stück also wie ein herkömmliches Drama nachgespielt werden kann. Trotz dieser bislang ungeklärten ästhetischen Frage stimmten auch die Zuschauer in der Mehrzahl für Rimini Protokoll, so dass die Sieger neben dem Votum der Jury noch die Publikumsstimme für sich verbuchen konnten.
Alle fünf Juroren meinten, 2007 sei ein starker Jahrgang; anders als üblich waren deshalb sieben statt acht Stücke nach Mülheim eingeladen worden. Viel Beifall erhielt Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die schon zwei Mal den Dramatikerpreis errungen hat, für ihr Schauspiel Ulrike Maria Stuart.
Die überwiegende Zahl der in diesem Jahr nach Mülheim eingeladenen Stücke beschäftigt sich mit Sozialkritik. Jüngere Dramatiker wenden sich von Experimenten mit der Form ab und kehren zu bewährten Erzählmustern des Dramas zurück. Der Mülheimer Dramatikerpreis ist mit 15 000 Euro dotiert.
http://www.goethe.de/kue/the/thm/idd/de2384357.htm