By Peter Michalzik
01.08.2006 / Goethe Institut Webseite
Wer wissen will, was das Theaterkollektiv oder Regie-Trio mit dem eigenartigen Namen Rimini Protokoll tut, kommt an den Worten Realität und Fiktion nicht vorbei. Rimini Protokoll sucht sich seine Themen in der Wirklichkeit. Die Projekte werden nach genauen Recherchen immer aus der Situation vor Ort entwickelt. Die Gruppe arbeitet für ihre Inszenierungen immer mit Laien zusammen, die bei Rimini Protokoll „Spezialisten“ heißen, die sie bei der Recherche gefunden hat und die in den Inszenierungen sich selbst darstellen.
Damit aber fangen die Schwierigkeiten der Trennung, die Verschiebungen, Verzahnungen und Überlagerungen von Wirklichkeit und Fiktion an: Man weiß nicht, wo das Theater beginnt und die Realität aufhört, man kann es und man soll es auch nicht wissen. Das aber ist keine Lust am Taschenspielertrick, sondern es zeigt sich dabei immer wieder, dass die Realität in Inszenierungen erst richtig erscheint. Das Theater von Rimini Protokoll setzt Bühne und Zuschauer einander nicht gegenüber, sondern verzahnt die beiden Sphären in immer wieder neuen Versuchsanordnungen. Dabei geht es um Wahrnehmung, um Erkennbarkeit der Welt und insbesondere der Menschen. Es geht darum, den Komplex, der unsere Realität ist, aufzubrechen, in seinen Facetten zu zeigen, um ihn so befragbar zu machen. Rimini Protokoll wenden ihre Methode äußerst subtil, in immer wieder überraschenden Konstellationen und mit großer Neugier auf die Welt an. So sind sie zu Protagonisten einer Reality-Bewegung geworden, die es seit ein paar Jahren im deutschen Theater gibt.
Den schnellen Ruhm nach dem Studium in Gießen und ersten Arbeiten in der Freien Szene verdankt Rimini-Protokoll dem damaligen Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Im verlassenen Plenarsaal des Deutschen Bundestags in Bonn wollten sie unter dem Titel „Deutschland 2“ die Bundestagsdebatte im Berliner Reichstag vom 27. Juni 2002 nachsprechen lassen, und zwar von denen, in deren Namen da verhandelt wurde, gewöhnlichen Bürgern. Thierse verbot unter Hinweis auf die „Würde des Hauses“ die Aktion und entfachte so eine Diskussion über Kunstfreiheit, die Beziehung Politik-Kunst und die Grenzen des Theaters und der Realität: Seitdem weiß die Öffentlichkeit, an welcher Stelle Rimini Protokoll operiert. Die Aktion fand schließlich in der Theater-Halle in Bonn Beuel statt, der Text der Abgeordneten wurde direkt in die Kopfhörer der Bonner Bürger übertragen, die ihn möglichst simultan zu sprechen suchten.
Die drei brechen in wechselnden Konstellationen immer neue Stücke aus der Wirklichkeit. „Deadline“ (Haug/Kaegi/Wetzel) erarbeitete Rimini Protokoll an einem Ort, der später geschlossen wurde, dem Neuen Cinema, einer Spielstätte des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Auf der Bühne, die bald keine mehr sein würde, standen ein Bürgermeister, ein Steinmetz, ein Trauerredner und eine Medizinstudentin, Menschen, die professionell mit dem Tod zu tun haben. Sie erzählten von ihrem Umgang mit dem Tod. Das war dramaturgisch so geschickt aufgebaut, ergänzte und bespiegelte sich, dass sowohl ein Tableau des heutigen Umgangs mit dem Tod als auch die einzelnen Personen und ihre Geschichte mit dem Tod sichtbar wurden.
„Sabenation. Go home and follow the news“ (Haug/Kaegi/Wetzel) war ähnlich kunstvoll gebaut. Es ging um die vielen Tausend Angestellten die von der belgischen Fluggesellschaft Sabena entlassen worden waren. Wieder waren die Mitspieler enorm gut ausgewählt, wie immer sogenannte „Spezialisten“, die sich selber spielten, wieder erfuhr man enorm viel über Hintergründe und Schicksale, wieder hatte man ein Feld der Wirklichkeit in vielen Facetten vor Augen.
Zu welchen Triumphen das Theater von Rimini Protokoll in der Lage ist, zeigte sich aber erstaunlicherweise in einer anderen Produktion: gerade „Wallenstein“, (Haug/Wetzel), ihre erste Arbeit nach einem klassischen Theatertext, inszeniert zu den Mannheimer Schillertagen, war ein Triumph des Castings. Was hier über Macht und Widerstand zu erfahren war, wie nah einem das in einem Mannheimer OB-Kandidat, Weimarer Polizeichef und insbesondere als in Heidelberg lebender Vietnamkriegsveteran kam, war erstaunlich. Es wirkte so authentisch und dicht, dass man denken musste, der Abschaffung des Theaters beizuwohnen, war aber in Wirklichkeit höchst kunstvoll in Szene gesetzte Inszenierung. Die Wirklichkeit war inszeniert, ohne ihre Authentizität zu verlieren.
Die szenische Intelligenz ihrer Arbeit wird in „Call Cutta“
(Haug/Kaegi/Wetzel) deutlich. Jeder Zuschauer bekam ein Mobiltelefon, an dem ein Gesprächspartner aus Kalkutta zu hören war, der einem erklärte wo – die Hörer waren in Berlin – man langgehen sollte. Es ist das ferne Call-Center, das einen leitet und dessen Mitarbeiter einem mehr oder weniger nahe kam. In der Arbeit, „Cargo Sofia“ (Kaegi), sitzen die Zuschauer in einem Lastwagen, durch dessen seitliches Fenster sie die vorbeirollende Umwelt sowie zufällige Begegnungen der Trucker an Rasthöfen sehen. So nehmen sie Teil an der Welt der Lastwagenfahrer, die zu Niedrigstlöhnen durch Europa rollen. Nirgends kommt einem die Wirklichkeit im Theater zur Zeit so nahe, wie in den Arbeiten von Rimini Protokoll.