Rimini Protokoll - Drei Fliegen mit einer Klappe

30.08.2010 / Neue Rundschau

Es sind merkwürdige Szenen und Situationen, die im Mittelpunkt der international ersten institutionellen Einzelausstellung von Rimini Protokoll stehen, die am Freitag, den 10. September um 19.00 Uhr im Heidelberger Kunstverein eröffnet wird. Stellen Sie sich mal eben nur so zum Beispiel vor, Sie stehen im Kaufhaus an der Kasse und nach der Bezahlung erschallt eine Ansage über Ihren Einkauf samt Preis, und Kunden und Verkäufer applaudieren. Oder Sie besuchen Aufführungen, die unter den Tischen von Gourmet-Restaurants stattfinden. Es könnte auch Gerichtsverhandlungen geben, bei denen vielen Zuhörern die Inszenierung wichtiger ist als das Urteil.


Die Vorschläge für diese inszenierten Eingriffe in den Alltag sind Teil einer utopischen Ideensammlung von Rimini Protokoll. In Heidelberg gibt das Kollektiv Einblick in seine Zukunftsvisionen. Dazu haben sich die drei Akteure, Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die Handschriften von 80 Heidelberger Bürgern „ausgeliehen“, die die vorformulierten Ideen auf kleine Zettel geschrieben haben. Vergrößert und an die große Wand der Ausstellungshalle gepinnt, vor einem goldenen Hintergrund und mit Hunderten ausgemusterten Stühlen von Sitzreihen des Heidelberger Theaters, stehen diese visionären Notizen im Zentrum der Ausstellung. Einige Stühle laden zum Hinsetzen ein, andere stehen an die Wand gelehnt. Indem das Kollektiv das Theaterinterieur in die fremde Umgebung des Ausstellungsraums transferiert, eröffnet es neue Blicke auf die Zukunft der bürgerlichen Institution Theater.


Die Heidelberger Ausstellung schaut jedoch nicht nur nach vorne, sondern auch in die Vergangenheit von Rimini Protokoll, das in den letzten zehn Jahren deutlich mehr als rein utopische Ideen entwickelt hat. Sie lenkt das Augenmerk auf die erstaunliche Fülle unterschiedlichster Produktionen, die weltweit gezeigt wurden. So können die Besucher etwa die Unterschiede zwischen den Antworten von 100 Berlinern und 100 Wienern auf die gleichen Fragen aufspüren. 2008 bzw. 2010 liehen die Städter ihren Metropolen Stimme und Gesicht und bildeten 100% Berlin bzw. 100% Wien auf 100 Quadratmetern Bühne ab. Zudem wartet in einem Miniaturbüro im Ausstellungsraum ein live aus Indien zugeschalteter Call-Center-Mitarbeiter auf Gesprächspartner aus Heidelberg. Und im Eingangsbereich der Ausstellung lässt sich anhand von Schriften und Projektionen das große Theaterspektakel einer Hauptversammlung nacherleben, die 2009 im ICC Berlin unter der strengen Regieleitung der Abteilung Investors Relations der Daimler AG veranstaltet wurde. Rimini Protokoll hatte im Vorfeld Aktien gekauft und Aktionäre gesucht, die ihre Einladung abtreten, um möglichst vielen Besuchern Zugang zu dieser „Aufführung“ zu gewähren.


Über Rimini Protokoll:
Den Namen Rimini Protokoll wählten Helgard Haug (*1969), Stefan Kaegi (*1972) und Daniel Wetzel (*1969), die unter diesem Label in wechselnden Konstellationen agieren, 2002. Bereits 2000 fanden erste Inszenierungen statt. Haug, Kaegi und Wetzel haben am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft studiert und sorgen weltweit für Aufsehen. Mit ihrem konzeptuellen Ansatz verlassen sie die klassische Bühnenwelt und bewegen sich im Grenzgebiet von Theater und Kunst. In ihren Stücken treten selten Schauspieler auf. Das deutsch-schweizerische Kollektiv arbeitet vielmehr mit „ganz normalen Menschen“, die ihr Wissen über ein für die Inszenierung relevantes Thema nacherzählen, die sich sozusagen selber spielen. Den Proben zu den Stücken gehen umfangreiche Recherche-, Casting- und Konzeptionsprozesse voraus, die ca. 2/3 des Arbeitsprozesses ausmachen. Vielleicht hat der enorme Erfolg ihres postdramatischen Theaters in der Vergangenheit den Blick mancher Zuschauer (und Kritiker) allerdings verdreht. Womöglich ging es Haug, Kaegi und Wetzel vor zehn Jahren nicht nur darum, Menschen auf der Bühne ein Sprachrohr zu verschaffen, sondern auch darum, wie man dieses Sprachrohr formt, um einen Ausschnitt des vielfältigen realen Lebens zu fokussieren.


Preise und Auszeichnungen (Auswahl)
2003: NRW-Impulse-Preis für „Shooting Bourbaki“ / 2004 und 2006: Einladung zum Berliner Theatertreffen mit „Deadline“ bzw. „Wallenstein – eine dokumentarische Inszenierung“ / 2005: Jurypreis beim Berliner „Festival Politik im freien Theater” für „Mnemopark“ / 2007: Publikumspreis beim Festival Stücke07 und Mülheimer Dramatiker Preis für „Karl Marx: Das Kapital. Erster Band“ und Sonderpreis des Deutschen Theaterpreises DER FAUST für Haug, Kaegi, Wetzel / 2008: Europäischer Theaterpreis in der Kategorie Neue Realitäten, Thessaloniki.


Projects

Three birds with one stone. An exhibition