By MATTHIAS HEINE
04.03.2009 / Die Welt
Muezzine heißen die Ausrufer, die in Moscheen mehrmals am Tag die Gläubigen zum Gebet rufen. Regisseur Stefan Kaegi von der Gruppe Rimini Protokoll lässt nun Muezzine aus Kairo, der größten Stadt der arabischen Welt, auf einer Berliner Bühne von ihrer Arbeit erzählen. "Radio Muezzin" heißt die Produktion.
Vier echte Muezzine, islamische Gebetsausrufer, aus der 16-Millionen-Metropole Kairo geben in der Aufführung Auskunft über ihren Beruf
Als der Regisseur Stefan Kaegi, Mitglied des Kollektivs Rimini Protokoll, in Kairo Muezzine für eine Theaterproduktion suchte, lag den Gebetsausrufern eine Bedingung ganz besonders am Herzen: Es dürften keine Schauspieler mitwirken. Denn bei den frommen Muslimen gelten Schauspieler als sündhaft, weil sie das falsche Leben zeigen.
Die Muezzine konnten nicht ahnen, wie sehr ihre Bedingung den religiösen Dogmen des deutschen Dokumentartheaters entgegen kam. Nicht nur bei Rimini Protokoll misstraut man dem Dargestellten, jenem So-tun-als-ob, das ja eigentlich das Wesen des Theaters ausmacht. Auch Volker Lösch mit seinen Chören aus echten Bürgern (je arbeitloser und faschistischer, desto authentischer) und viele andere Kleinhandwerker der Gießener Schule vertrauen ja nur wirklichen Menschen, die auf der Bühne sich selbst darstellen. Klar, bei Lösch gibt es auch Darsteller – aber hat man jemals bemerkt, dass in irgendeiner seiner Produktionen ein Schauspieler als Schauspieler auf sich aufmerksam gemacht hätte?
Dabei beweist „Radio Muezzin“, das Stück, das Kaegi schließlich in Kairo fertig stellte und das nun im Berliner Hebbel am Ufer Premiere hatte, dass jeder ein Schauspieler wird, sobald er eine Bühne betritt. Mit den fünf Mitwirkenden geht hier eine subtile Verwandlung vor, die ihnen selbst nicht ganz klar sein mag, die aber unübersehbar wird. Und lustigerweise korrespondiert die Größe ihrer Bühnenpersönlichkeit keineswegs mit ihrem Rang in der religiösen Hierarchie.
Denn am schüchternsten wirkt ausgerechnet der vielgereiste Vizeweltmeister im Koranrezitieren, dessen Erinnerungsfotos mit Staatsmännern der islamischen Welt auf die Videoleinwände projiziert werden. Der Ex-Gewichtheber ist auch einer von 30 Auserwählten, die vom ägyptischen Religionsministerium erkoren wurden, ab 2010 das Volk per zentralem Ruf übers Radio zum Gebet zu rufen – eine Maßnahme, die voraussichtlich das Ende des traditionellen Muezzinberufsbildes bedeutet. Auch der andere staatliche geprüfte Gebetsrufer wirkt relativ verschlossen. Man erfährt nicht viel Privates über ihn, außer dass er in der Armee Panzerfahrer war und nachts einem Zweitjob in einer Bäckerei nachgeht.
Dagegen entpuppen sich ein blinder Muezzin und der nach einem Unfall invalide ehemalige Elektriker, die den Beruf gewissermaßen als religiöse Hilfsarbeiter ausüben, als ausgesprochen unterhaltsame Persönlichkeiten, die auch am ehesten so etwas wie verhaltene Kritik an der Entscheidung des Religionsministeriums üben. Der Elektriker hat im Jom-Kippur-Krieg 1973 gedient (den man auf ägyptische Seite interessanterweise als „Sieg“ betrachtet) und in Saudi-Arabien gearbeitet - entsprechend viel hat er zu erzählen.
Aus den Berichten aller vier – dazu kommt noch ein Radioingenieur, der die technischen Seiten der geplanten Übertragung erläutert – ergibt sich in 70 Minuten ein Bild der religiösen Kultur in der 16-Millionen-Metropole. Muezzine stehen schon lange nicht mehr oben auf den Minaretten der etwa 30 000 Kairoer Moscheen (das war bis in die Fünfzigerjahre so), sondern ihre Stimmen werden per Lautsprecher übertragen. Oft sind sie auch eine Art Hausmeister, der Lampen am grün beleuchteten Minarett auswechselt oder in der Moschee staubsaugt. Für alle ist ihr bescheidenes Salär ein wichtiger Beitrag zur Ernährung der Familie. Manchmal nehmen sie um des Berufs willen die Trennung von ihren Lieben in Kauf.
Es ist ein Ausflug in den ruhigen, fast banalen Alltag des Islams – jenseits aller westlichen Gruselbilder und aller östlichen Erregungen. Konflikte mit dem zuständigen Ministerium, Richtungskämpfe innerhalb der religiösen Fraktionen und die politische Instrumentalisierung des Islams bleiben so gut wie unerwähnt, ebenso die Härten des Lebens in der rauen Megalopolis Kairo.
Auf einer Art übergroßem Gebetsteppich stehend, vor drei Videobildschirmen mit Privatfotos und Straßenszenen bieten die fünf ein wohnzimmerkompatibles ausgesprochen beruhigendes Bild – weniger enthüllend als ein guter Beitrag im „Weltspiegel“ oder im „Auslandsjournal“. Da gerät das Dokumentartheater mit echten Darstellern eben an seine Grenzen: Wenn die „Experten des Alltags“ (so heißen sie im Jargon von Rimini Protokoll) von den Abgründen und Klippen ihres Gewerbes und ihres Lebens partout schweigen wollen, dann bleibt manches unter dem Teppich.
Termine: 6., 7., 8., 9. März, Karten (030) 259004 27
oder http://www.hebbel-am-ufer.de