By Philipp Ramer
20.10.2012 / Neue Zürcher Zeitung, Zürcher Kultur
Kann man eine mathematische Disziplin dramatisieren? Kann man im Theater Demografieunterricht erteilen? Und lässt sich beides zu einem vergnüglichen Abend kombinieren? Ja, das Regie-Trio Rimini Protokoll macht es in der Gessnerallee vor.
Statistisch gesehen waren die Bedenken an diesem Abend gering, die Erfolgschancen gross. Erstens: Bei der hohen Siegquote des Projekts «100%» in allen bisherigen Aufführungen weltweit schien eine Niederlage in Zürich unwahrscheinlich. Zweitens: Da bei hundert lokalen Laienschauspielern geschätzte 70% des Premierenpublikums aus Verwandten und Bekannten bestehen dürften, schienen 100% Applaus gesichert. Die Prognose war richtig.
Was aber sind eigentlich Prognosen, was sind Statistiken? Was sagen Kuchendiagramme aus, und lassen sich Menschen als Variablen oder Balken darstellen? Das fragten sich Rimini Protokoll vor vier Jahren: Für das Berliner Hebbel-Theater entwarfen Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel ein Bühnenkonzept, in dem die abstrakten Zahlen und Grafiken von Statistiken durch konkrete Gesichter ersetzt werden sollten. Wenn man versuchte, eine Stadt durch exakt einhundert ihrer realen Bewohner zu repräsentieren, je ein Prozent der Bevölkerung durch einen Menschen: Wie sähen die Statistiken aus, wenn diese «Volksvertreter» individuell auf Fragen antworten, sich für «Ja» oder «Nein» entscheiden könnten? Welche Fragen würde man vor Publikum stellen dürfen, und wie ehrlich wären die Antworten?
Nach Aufführungen von Wien über London bis Melbourne ist dieses Experiment nun in der Gessnerallee Zürich zu sehen. Anhand eines von der Dienstabteilung Statistik Stadt Zürich erarbeiteten Bevölkerungsmodells wurden während Monaten einhundert Männer, Frauen und Kinder gesucht, welche in ihrer Zusammensetzung die Stadtbevölkerung «glaubhaft» repräsentieren könnten.
Eine Person für 3900 Zürcher
Rimini Protokoll wählte dabei nur die erste Person aus: Simone Nuber, Direktorin ebenjenes Amtes für Statistik. Nuber bestimmte aus ihrem Bekanntenkreis den nächsten Teilnehmer, dieser den nächsten und so fort, bis einhundert Zürcherinnen und Zürcher beisammen waren. Ein Casting-Team überwachte die statistisch korrekte Verteilung bezüglich Geschlechts, Nationalität, Altersklasse und Stadtkreises (Wohnort). Schliesslich muss jede Person umgerechnet rund 3900 Zürcher vertreten. Zu Beginn betreten die Teilnehmer in der Abfolge der «Anfragekette» die Bühne, stellen sich mit Name, Beruf und Herkunft vor. Innert weniger Minuten ist eine Hundertschaft auf der Bühne versammelt – ein kunterbunter Querschnitt durch die Bevölkerung. Philosophie-Dozentin und Personal Trainer, iranischer Politikwissenschafter und algerischer Koch, Baby in Windeln und Greisin am Stock: das Ensemble des multikulturellen Alltags.
Hoch über Marc Jungreithmeiers und Mascha Mazurs grasgrüner Drehbühne, auf der die Gruppe einen Kreis gebildet hat, hängt eine runde Leinwand. Das Bild einer Deckenkamera zeigt darauf die Bühne aus der Vogelperspektive. Nun schieben sich halbtransparente Grafiken über das Video, erst die Stadtkreise, später ringförmig angeordnete Altersklassen, auf denen sich die Leute verteilen. Spielerisch werden hier starre Diagramme verlebendigt. Das ist freilich erst der Anfang. Nachdem die Grunddaten erfasst worden sind, muss Stellung bezogen werden. Den Hauptteil der Vorstellung nämlich machen Fragerunden zu politischen Themen, gesellschaftlichen Entwicklungen und privaten Befindlichkeiten aus – Intimes durchaus nicht ausgespart. Um Zürich selbst geht es dabei eher am Rande. «Wer möchte ein autofreies Zürich?», wird etwa gefragt. Die Schauspieler formieren sich zu Gruppen unter den Schildern «Ich» und «Ich nöd» (später können sie mittels farbiger Tafeln zwischen mehreren Antworten wählen). «Wer hat Schwierigkeiten, grosse Entscheidungen zu treffen?», heisst es weiter oder: «Wer ist zufrieden mit der schweizerischen Ausschaffungspolitik?» Natürlich ist das Publikum mitgefragt, und ein Teil des Vergnügens besteht darin, die eigene Meinung mit jener der «Repräsentanten» zu vergleichen.
Hilflose «Bühnen-Zürcher»
Freilich befindet man sich dabei als Zuschauer in einer bequemen Position, während die «Bühnen-Zürcher» hilflos exponiert sind. Bei der Frage nach Political Correctness müssen sie fraglos angeben, dass ihnen diese wichtig sei. Umso lustiger wird es dann, wenn der Vorsatz gelegentlich über Bord geworfen wird: Gibt es in Zürich zu viele Deutsche in leitenden Positionen? Überwältigendes Ja! Wohin mit den Neuzuzügern angesichts der akuten Wohnungsnot? Ab nach Schlieren! Spannend ist es auch, die Voten einzelner Schauspieler vorhersehen zu wollen. Mit der Zeit ertappt man sich im Glauben, bestimmte Typen festgestellt zu haben – und sieht sich immer wieder überrascht, sein vorgefertigtes Bild zerstört: Die wählt SVP, der ist religiös? Bei 100% Zürich haben Vorurteile eine geringe Chance in Prozenten.
Zürich, Gessnerallee, 18. Oktober.