By Marion von Zieglauer
06.05.2011 / Deutsche Allgemeine Zeitung
Am 27. April 2011 hob sich im Berliner Theater HAU 2 der Vorhang für die Aufführung „Bodenprobe Kasachstan“. Darin geht der Schweizer Regisseur Stefan Kaegi der Frage nach, welche Auswirkungen geopolitische oder wirtschaftliche Entscheidungen auf das Leben des Einzelnen haben. Protagonisten: Russlanddeutsche aus Kasachstan und in Deutschland lebende Kasachen. Im Mittelpunkt stehen die Wege des Öls, der Macht und der Menschen. Zur Recherche reiste der Regisseur samt Crew zwei Wochen durch Kasachstan und seine Steppen.
Am Anfang des Dokumentartheaters Bodenprobe Kasachstan, das am 27. April im HAU 2 in Berlin uraufgeführt wurde, stand die Frage: Wer sind die Russlanddeutschen, Kasachen und Zentralasiaten, die in Deutschland wohnen? Was verbindet den kasachischen LKW-Fahrer mit dem ostdeutschen Tiefbohringenieur und die Ehefrau eines ausgereisten Russlanddeutschen mit der Frau aus Tadschikistan, die dort während des Bürgerkrieges aufgewachsen ist? Den in Berlin wohnhaften Stefan Kaegi interessiert bei der Wahl seiner Themen weniger die Kritik an den Zuständen, sondern die Verhältnisse an sich. Sein Theaterprojekt will zeigen, nicht kritisieren, denn „das kann dann jeder selbst“. Er will dem Publikum Einblicke in eine Wirklichkeit gewähren, die vielen vorher unbekannt war.
Rimini-Protokoll nennt sich das Theaterlabel, das von Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel im Jahr 2000 aus der Taufe gehoben wurde. Ihr Metier: Dokumentartheater, das Experten des Alltags auf die Bühne bringt, die von ihrem Leben erzählen. Seit Beginn seines Bestehens hat Rimini-Protokoll schon oft für Aufregung gesorgt. Das Theater ist weder auf Raum noch Zeit begrenzt, Aufführungen dauern schon mal einige Stunden, oder der Zuschauerraum befindet sich nicht in einem Theatersaal, sondern im Stauraum eines LKWs und die Bühne überall dort, wo der Wagen gerade hält.
Wiederkehrende Strukturen
Einblicke in eine unbekannte Wirklichkeit will Regisseur Stefan Kaegi in seinem Theaterprojekt zeigen.Zwei Drittel der Arbeit am Theaterstück bestanden in Recherche und Informationsbeschaffung, Konzeption und Casting. Deswegen begann das Team in Berlin und Hannover Treffen mit russlanddeutschen Vereinen zu arrangieren und von dort aus weitere Kontakte zu knüpfen. In den Gesprächen stellte sich bald heraus, dass jeder der über 70 Interviewten sein persönliches Schicksal durchlebt hat, dass sich aber Strukturen wiederholen. Viele der Interviewten stammen aus Kasachstan.
Das führte zur Frage, wie viel man in Deutschland eigentlich über das neuntgrößte Land der Erde weiß. Kasachstan verschlingt in seinem Volumen locker halb Europa, 20 Prozent aller Erdölvorräte der Welt werden dort vermutet und ein Vielfaches an Edelmetallen, seltenen Erden und anderen wertvollen Rohstoffen. Die Wirtschaft wächst unter der Regierung des Präsidenten Nursultan Nasarbajew jährlich um elf Prozent. Kasachstan ist schon jetzt einer der wichtigsten Erdöllieferanten Deutschlands und will, nach eigenen Angaben, bis 2030 zu den 50 wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt zählen.
Natürlich geht es im Stück „Bodenprobe Kasachstan“ auch um Migration. In der Geologie versteht man unter diesem Begriff die Wanderung von Kohlenwasserstoffen vom Muttergestein zum späteren Speichergestein. Daraus entstehen in einem weiteren Prozess Erdöl und Erdgas. Stefan Kaegi verbindet den geologischen Aspekt mit der soziologischen und politischen Migration.
In den 1990er Jahren, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion war Kasachstan, wie die anderen vier Teilrepubliken in Zentralasien Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, von einer tiefen Wirtschaftskrise gezeichnet. Viele Russlanddeutsche folgten daher dem Aufruf Kohls, in ihre historische Heimat Deutschland zurückzukehren, von der sie oft selbst keine rechte Vorstellung mehr hatten. Doch war es nur eine altruistische Geste Kohls, oder kamen zusammen mit den Russlanddeutschen, die bis heute oft in den Außenbezirken der Stadt angesiedelt sind, vor allem auch Wählerstimmen?
Man sieht nur, was man weiß
Die Protagonisten des Stücks: Russlanddeutsche aus Kasachstan und in Deutschland lebende Kasachen.Das Team beschloss, nach Kasachstan zu reisen, um sich selbst ein Bild zu machen. In Almaty, Atyrau, Uralsk, Astana und Semej fand der Regisseur die erzählten Geschichten seiner Protagonisten wieder. Er besuchte ihre noch lebenden Verwandten, fuhr durch die endlose Steppe, vorbei an den ehemaligen sowjetischen Atomtestgebieten und den großen Erdölförderstätten. Der New Yorker Kameramann Chris Kondek filmte die Eindrücke, die dann in das multimediale Theaterstück integriert wurden. Je tiefer Kaegi und Co. schürften, desto komplexer wurde die Fragestellung. Aus dem ehemaligen „Wer sind sie?“ wurde die Frage nach dem Zusammenhang geopolitischer und wirtschaftlicher Entscheidungen.
Juliane Männel, die Dramaturgin und Produktionsleiterin ist gespannt darauf, wie die russlanddeutschen Darsteller wohl auf die Videobilder ihrer alten Heimat reagieren werden. Kaegi weiß es jetzt schon: „Sie werden weinen“, sagt er, denn das wurde bei der Zusammenarbeit mit den Einzelnen klar: Die Erinnerung an die Heimat macht die Menschen feinfühlig. Es liegt in ihrer Kultur, die Geschichten, die sie in sich tragen, zum Ausdruck zu bringen.
Am 27. April 2011 wurde im HAU 2 in Berlin genau das auf die Bühne gebracht: Ein Geflecht medialer Darstellungsformen von Musik, bewegten Bildern und erzählten Geschichten, die ineinander verwachsen und Kasachstan vor den Augen der Zuschauer entstehen lässt. In deutscher und russischer Sprache werden die Wege der Protagonisten, des Erdöls und der Macht nachgezeichnet. Der Startschuss fiel in Berlin, dann wandert die Aufführung durch Deutschland, Österreich, Frankreich bis nach Norwegen und Russland. Kasachstan ist auf der ersten Gastspielreise leider noch nicht dabei: Wie so oft fehlen der Kunst die finanziellen Mittel. Aber wenn sich solche noch finden, kommen Kaegi und sein Team gerne nach Kasachstan zurück.