By Irene Bazinger
30.11.2001 / Frankfurter Allgemeine Zeitung
Das Tonband knistert ein wenig, die Spitzentöne sind stumpf, der Moderator spricht onkelhaft begütigend, die Anruferin ist außer Atem, weil aufgeregt. Ob sie Eier und Wurst nach drüben bringen könne? Ja. Ein Pfund Butter? Ja. Oder leiber doch bloß ein halbes Pfund? Ruhig ein ganzes. Und eine Flasche Cognac? Nur zu.
So klang das im Dezember 1963, als das erste Passierscheinabkommen für West-Berlin in Kraft trat, die unverhofft ihre Verwandten in Ost-Berlin besuchen konnten. Der bürokartische Aufwand allerdings war enorm, mehrere Stunden dauerte allein schon das Erlangen des Antrages, Schlangestehen war auch im Westteil Berlins wieder an der Tagesordnung. Da sich zudem fast stündlich die Vorschriften und Verordnungen für die Grenzübertritte änderten, richtete der RIAS in seiner Funktion als freie Stimme der freien Welt eine eigene Telefonnummer ein, über die sich verunsicherte Westbürger informieren, ihre Erfahrungen weitergeben oder öffentlich um Unterstützung bitten konnten. Und gelegentlich ihrem gepeinigten Herzen Luft machten: „Nun frage ich Sie: Wo ist da die reibungslose Abwicklung?“
Helgard Haug und Daniel Wetzel haben die originalen Aufzeichnungen der Sondersendungen, die über 14 Tage lang fast ganztags ausgestrahlt wurden, als Gerüst ihres Stücks „Apparat Berlin“ benutzt. Darum herum bauen die beiden Absolventen des Giessener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft im Prater der Volksbühne ihr kleines Stück Alltagsverfremdung.
Die Schauspieler Martin Kaltwasser und Sascha Willenbacher, der eine in einem grünen, der andere in einem beigefarbenen Sweatshirt, bewegen sich unauffällig durch Bert Neumanns U-förmige, kleinzellige Zimmerflucht und versuchen, dabei möglichst souverän zu wirken. Einmal schleppen sie einen Fernseher gekonnt ungekonnt durch die niedlich dekorierten Räume, einmal veranstalten sie eine zünftige Rauferei mit Würgen und Reißen. Ansonsten folgt die Matrix ihrer coolen Koexistenz dem friedlichen Widerspruch: „Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind.“
Die Nachrichten überstürzen sich, Menschenmassen strömen von West nach Ost, im Rundfunkgebäude geht das Licht nicht mehr aus – aber die beiden ungelenken Contenance-Adepten passen bloß auf ihre Brillen auf und bemühen sich, so auszusehen, als hätten sie alles im Griff. Derweil reihen sie rhetorische Versatzstücke in der Art von Autoverkäufern, Marketingdozenten und fliegenden Händlern, die vor Kaufhäusern Gurkenreiben anpreisen, aneinander.
Dies ergibt ein ziemlich amüsantes Jungsspiel, in dem es darum geht, mit ernsthaftem Gesicht möglichst viel und egal wie gesichertes Faktenwissen aufzutischen, ob über Lawinenforschung, das neue Station von Schalke 04, die strategischen Grundrisse römischer Heerlager oder Varianten des Orientierungsvermögens. (...)
Don’t panic, heißt die Devise, doch die Gefahr, ihr, der Panik, bei plötzlichen Gefahren anheimzufallen, scheint so groß zu sein, dass sich das Verhalten der beiden Männer an nichts anderem orientiert. Josephine Fabian, die zuerst teilnahmslos im Bett liegt und dann eine Familienchronik auf die Tür zeichnet, versucht auch nicht mehr, als das gefürchtete Chaos durch Pfeile, Querverbindungen und weitere Ordnungsbestrebungen zu bannen.
Bei plötzlich ausbrechender Urangst fällt man um einige Zivilisationsstufen zurück und bekommt nasse Hände, heißt es einmal. So ergibt sich ein skurriles Wechselspiel zwischen den alten Rundfunkstimmen mit ihrer Mischung aus Aufruhr und Lebenshilfe sowie den verzweifelt auf Systemstabilisierung erpichten Plaudertaschen mit den weichen, jungen Knien: Torschlusspanik kennt keine Grenzen.