27.01.2008 / Welt am Sonntag
Mal lassen sie Berliner Passanten von Call-Center-Mitarbeitern in Kalkutta per Handy durch Berlin führen. Mal bringen sie den "Wallenstein" mit einem der Intrige zum Opfer gefallenen Provinz-Politiker. Mal machen sie einen LKW zur Theaterbühne und fahren die Zuschauer mit zwei bulgarischen Lastwagenfahrern durch die Stadt - selbst gebürtige Berliner haben dabei die Stadt ganz neu kennengelernt. Die drei Theaterregisseure von der Gruppe Rimini Protokoll haben sich auf ungewöhnliches Dokumentartheater spezialisiert. Sie arbeiten mit Laien, die ihre Person einbringen. Das neue Stück "100 Prozent Berlin" ist der Beitrag von Rimini Protokoll zum 100. Geburtstag des Hebbel-Theaters, der in diesen Tagen begangen wird.
Auf der Bühne werden 100 Berliner stehen. Es ist ein repräsentativer Querschnitt durch die Berliner Gesellschaft. Entgegen anderer Rimini-Protokoll-Projekte, in denen ein groß angelegtes Casting der Arbeit vorausgeht, wurde für "100 Prozent Berlin" nur ein einziger Mensch gecastet - der Statistiker Thomas Gerlach. Er schlug dann seine Tochter als weiteren Teilnehmer vor, die wiederum ihre Freundin - so sollte die Kette weiterlaufen, bis die 100 Berliner, also "100 Prozent Berlin", beisammen sind.
Diese Kettenreaktion wurde durch ein Raster von Suchkriterien gesteuert. Angelehnt an die offiziellen Kategorien des "Amtes für Statistik Berlin Brandenburg" wurden eben solche Gruppenmitglieder gesucht: Singles, Ausländer, Paare, Hartz IV oder Höchstgehalt.Jedes neue Glied, das in der Kette dazu kam, musste Auskunft über Geschlecht, Alter, Familienstand, Nationalität und die Art des Einkommens geben. Entsprechend der Berliner Verhältnisse in diesen Kategorien wurde die Suche nach einem neuen Glied der Kette zum Ende hin immer anspruchsvoller.
Im Gespräch geben die Regisseure der deutsch-schweizerischen Gruppe zu, dass die Kette abgerissen ist. Ungefähr bei Prozent 70 war endgültig Schluss. Einfach weil die Anforderungen so spezifisch wurden, dass nur noch rund 5000 Berliner die Kriterien erfüllten. Es wurde dann innerhalb der Kette nach Bekannten gefragt, die das Suchraster erfüllen, und man wurde fündig. Auf der Bühne werden unter anderem sein: drei Hunde, ein Baby und mehrere Kinder. Wir stellen vier der "100 Prozent Berlin"-Darsteller vor.
Hauke Schmidt-Martens, 25, Student
Ich bin kein richtiger Berliner. Und damit ja eigentlich gerade doch ein richtiger. Denn es gibt so viele Leute in Berlin, die nicht hier geboren wurden. Ich wurde in Bad Salzuflen geboren. Mein Vordiplom habe ich noch in Freiburg gemacht und dann bin ich nach Berlin gezogen. Weil ich Lust auf die Stadt hatte.
Gelandet bin ich in Neukölln. Am Hermannplatz. Weil es billig ist. Der Hermannplatz ist lebendig. Aber er kann auch stressen mit den vielen Kaputten dort. Aber eigentlich mag ich es ganz gern. Und in der Weserstraße macht in letzter Zeit fast jeden Tag eine neue Kneipe auf. Das ist ein toller Kiez. Dass ich als Kennzeichen eine Bierflasche mit auf die Bühne nehme, hat damit aber nichts zu tun. Ich musste mir irgendwas ausdenken. Und als Verpflegung ist sie praktisch.
Meine Freundin ist Berlinerin. Ihre Eltern auch. Was einen Berliner ausmacht? Nun, ich denke, ein nicht so übertriebener Hang zur Höflichkeit. Das meine ich ganz ernst. Manchmal ist es auch gut, wenn man sich nicht so viele Gedanken um die Form macht, sondern um den Inhalt.
Gabriela Bayazit, 45, Sozialarbeiterin
Alle Berliner sollten türkisch können. Das ist wirklich sehr hilfreich. Ich bin vor 24 Jahren nach Berlin gezogen. Zum Studium. Afrikanistik. Ich merkte schnell: hier leben viele Türken, und es ist ganz praktisch, die Sprache zu verstehen.
Und vor allem gibt es ein ganz anderes Selbstbewusstsein und Auftreten, wen man die Leute versteht. Gerade in einem Bezirk wie Neukölln, wo ich wohne. In Berlin habe ich schon überall gewohnt. Aber in Neukölln habe ich angefangen und nun bin ich auch wieder dort hingezogen. Weil die Wohnung schön ist und am Landwehrkanal liegt. Natur in der Großstadt, das mag ich. Ich bin eine Art Großstadtindianerin. Darum nehme ich auch meine Muschelketten als Kennzeichen mit auf die Bühne. Die sehen indianisch aus. Als Haustiere habe ich zu Hause zwei afrikanische Krallenfrösche. Die habe ich von einem Freund zu meiner Hochzeit im vergangenen Jahr geschenkt bekommen. Mein Mann ist Türke, wir haben uns in Istanbul kennengelernt. Er ist nach Berlin gezogen, weil ich mich in Istanbul als Frau in manchen Situationen nicht sicher gefühlt habe. Berlin ist sicherer. Das sagt auch mein Mann. "Berlin ist ein Sanatorium", hat er mal gesagt. Gut, wir wohnen in der Nähe vom Urban-Krankenhaus, aber er meint die ganze Stadt. So erholsam.
Übrigens spreche ich auch Suaheli. Das habe ich während meines Studiums gelernt. Vor 15 Jahren konnte ich es fließend. Aber in Berlin habe ich es noch nie gebraucht, denn die meisten Afrikaner sprechen sofort Englisch. Da ist türkisch wirklich nützlicher.
Thomas Gerlach, 51, Statistiker
Ich bin im Westen geboren und im Osten aufgewachsen. Weil meine Mutter sich um meine Oma kümmern wollte, ist sie zurück in die DDR gegangen und ich natürlich mit. Ich werde oft gefragt, ob ich es nicht bedaure, in der DDR aufgewachsen zu sein. Aber diese Biografie ist nicht so schlecht, wie sie zuerst einmal klingt.
In meinem Job als Statistiker öffnet sie mir die Türen zu den Leuten. Denn ich mache Mikrozensus-Umfragen. Das sind offizielle Umfragen zu Einkommen, Bildung und so weiter. Wenn ein Haushalt ausgewählt wurde, muss er teilnehmen. Man kann nicht ablehnen, das ist wie das Schöffenamt. Das gibt manchmal schon Ärger. Ich kann es manchmal auch verstehen, dass die Leute sich schwer damit tun. Es sind ja immerhin 70 Seiten, die sie ausfüllen. Übrigens anonym. Und das vier Jahre lang in Folge. Dann geht es zum nächsten Haushalt.
Wenn ich dann wieder einmal vor einer fremden Tür stehe und meinen Ausweis mit dem Geburtsort "Darmstadt" zeige, ist das im Westen nicht schlecht. Da meckern viele wenigstens nicht "jetzt fragen uns schon die Ossis aus". Und im Osten habe ich den Mitleidsbonus wegen der gemeinsamen Sozialisation in der DDR. Aber manchmal hilft das alles nichts. Da wird mit physischer Gewalt gedroht: "Ich schubs' dich die Treppe runter." Das hier auf der Bühne ist lebendige Statistik. Faszinierend. Unter den 100 Leuten hier sind übrigens auch einige, die ich schon in ihrer Wohnung besucht habe.
Cetin Ari, 42, Tanzlehrer
Ich bin am 31.12.1992 in Berlin angekommen. Davor habe ich in der Türkei, in einer Kohlestadt am Schwarzen Meer gelebt. Ich wollte in Berlin studieren. Politik am liebsten. Aber es gab Probleme mit dem Sprachtest. Wenn ich fertig studiert hätte, wäre ich jetzt vielleicht wieder in der Türkei und würde dort Politik machen. Nun bin ich Tanzlehrer für traditionelle Tänze in Berlin.
Zu mir kommen alle möglichen Leute. Junge, Alte, Türken, Deutsche. Die Jungen werden manchmal von ihren Eltern geschickt. Das merke ich sofort daran, wie sich jemand bewegt, ob er tanzen lernen will oder es nur soll.
Die zweite Generation ist eine Generation mit vielen Problemen. Ich merke das im deutsch-türkischen Zentrum in Kreuzberg, wo ich ehrenamtlich arbeite. Sie versucht, die Probleme der Eltern zu lösen. Ist kein Geld da: gehen sie arbeiten. Gibt es Probleme mit der Justiz, wollen sie Jura studieren. Das ist eigentlich gut, aber sie verlieren ihr eigenes Leben aus den Augen. Und wenn sie dann eine eigene Familie haben - was dann? Ich werde auf der Bühne einen traditionellen osmanischen Hut tragen.