By ik
23.08.2004 / Die Welt
"Geht nach Hause und verfolgt die Nachrichten", mehr hatte die Firmenleitung der belgischen Fluggesellschaft Sabena bei ihrem Konkurs ihren Angestellten nicht zu sagen. Kein persönliches Wort. 12 000 Menschen verloren am 7. November 2001 ihre Arbeit. Ein ökonomisches und soziales Drama, Stoff für die Nachrichten, aber kaum für ein Theaterstück, möchte man meinen. Doch das deutsche Regiekollektiv Rimini Protokoll holt beim Laokoon Festival auf Kampnagel die Theatralität aus der Wirklichkeit.
Nicht etwa Schauspieler sind die Protagonisten ihres Dokumentartheaters. Es sind die sieben Betroffenen, genannt "Experten für spezielle Lebenssituationen". Hier sind es eine ehemalige Stewardess, ein früherer Fluglotse, ein Sicherheitsbeamter, die sich an den letzten Flug erinnern und aus ihrem Leben nach dem Crash der Sabena-Familie erzählen. Eine Hand voll Pingpong-Bälle fliegt eingangs über die Köpfe der Zuschauer. Die Tischtennismannschaft der Firma muss schlagfertig gewesen sein und existiert bis heute. Am Ende zieht ein Modellflugzeug lautlos seine Kreise, ferngesteuert von dem früheren Flugingenieur, der beim Konkurs kurz vor der Pilotenprüfung stand. Die Angst vor dem Nichtfliegen ringt dem heutigen Alltag kuriose Situationen ab. Gurken verkauft der Mann vom einstigen Cateringservice, die er hier zum Airbus umgeformt anpreisend durch die Publikumsreihen reicht. Daten und Fakten schlagen immer wieder Schneisen durch die persönlichen Bekenntnisse, während sich die Bühne markiert mit Lichterketten in ein Rollfeld verwandelt. Das Bild der Stewardess Myriam Reitanos prägte die Titelseiten am Tag nach der Pleite. In Interviews teilte sie damals die Sorge um ihre Adoptivtochter mit. Jetzt steht die kleine Deborah mit auf der Bühne, sortiert Pingpong-Bälle - im Hintergrund ein Sabena-Plakat aus den Fünfzigern, das eine lächelnde Stewardess mit Kind auf dem Arm zeigt. So vermischen Rimini Protokoll unterhaltsam Realität und Spiel. Berührend gewinnen die Personen auf der Bühne Kontur, überzeugen in der Echtheit ihrer Darstellung. Das ist kein Betroffenheitstheater. Und wenn die sieben "Lebensexperten" die Zuschauer beim Rausgehen höflich verabschieden, wie man es aus dem Flugzeug kennt, möchte man jedem von ihnen ganz persönlich danken - für diesen wundervollen Theaterabend. ik
Die Welt, 23. August 2004