By Margarete Affenzeller
28.05.2010 / DER STANDARD
Ein Auftragswerk der Festwochen, setzt auf das Ornament der Masse. Charmanter Abend. Wien - Knapp die Hälfte aller Wienerinnen und Wiener lebt in einem Altbau, rund 42 Prozent der Menschen dieser Stadt sind ledig, und die meisten von ihnen halten Sigmund Freud für wichtiger als Falco. Nur ganz wenige waren schon einmal am Opernball, und im Gefängnis will praktisch keiner gewesen sein. Die Daten, von denen hier die Rede ist, stammen nicht von der Statistik Austria, sondern von der deutsch-schweizerischen Dokumentartheatergruppe Rimini Protokoll (Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel), die seit zehn Jahren auf deutschsprachigen Bühnen für Informationen aus erster Hand sorgt. Anstelle von Schauspielern werden jeweils "Experten" eines gewählten Themenkomplexes zu Protagonisten einer Inszenierung. Seniorinnen waren die Auskenner in Sachen Altsein (Kreuzworträtsel Boxenstopp), Marx-Leser erklärten den Kapitalismus, Trauerredner behandelten den Tod und zuletzt - beim Steirischen Herbst zu sehen - standen arbeitslose Muezzine auf der Bühne.Bei der jüngsten Uraufführung erhebt das Regietrio die Bewohner von Wien zu Experten ihrer eigenen Stadt. 100 Prozent Wien, ein Auftragswerk der Wiener Festwochen, ist - und das ist weniger trocken als es klingt - eine inszenierte Statistik. Einhundert Wienerinnen und Wiener, die nach klassischen Kategorien wie Alter, Geschlecht, Beruf, Wohnbezirk etc. ausgewählt wurden, repräsentieren in der Halle E des Museumsquartiers die Stadtbevölkerung. Die Varianten der Darstellung entsprechen dabei den Mechanismen und der Anschaulichkeit von Massenchoreografien.Eine große, sich manchmal drehende Scheibe ist das Spielfeld, auf dem sich die Bürgerinnen und Bürger - entsprechend den gestellten Fragen - zu Gruppen formieren. "Wer hat eine Waffe zu Hause?" - Und schon verfügen sich die allermeisten unter das Schild "ich nicht". Bei "Wer geht im Herbst zur Wiener Wahl?" wird es komplizierter. Es stehen mehrere Antworten zur Disposition; es bilden sich dementsprechend mehrere Menschentrauben. Dass man allerdings ohnehin keiner Statistik trauen kann, wird spätestens dann klar, wenn die Frage "Wer hat heute Abend gelogen?" auftaucht. Die Fragen richten die Akteure selbst an sich, an zwei Mikrofonen im vorderen Bühnenraum, und manch einer konnte sich bei der Gelegenheit ein klein wenig näher vorstellen: "Ich bin der Karl aus der Lobau." Vogelperspektive Die Abbildung der spezifischen Eigenschaften der Stadtbevölkerung gelingt besonders gut aus der Vogelperspektive einer Kamera, die sich vom Schnürboden auf die Köpfe der Hundertschaft richtet, wenn diese mit hoch gehaltenen grünen oder weißen Farbplatten ein Ja bzw. ein Nein signalisiert - und so ein Ornament aus der Masse entstehen lässt. Auch die Horizontale wurde genutzt: Es ist schön anzuschauen, wie sich bei der Schlafenszeitfrage "Wien um 20, 21, 22 Uhr abends...?" die Körper sukzessive auf den Boden verlagern bzw. eben nicht. Die Frage "Wer will mich heiraten?" wird höflich beantwortet. Und entschlossenen Hauptes der Weg zur Zugehörigkeitsgruppe "Wir haben Schulden" angetreten. Nicht alles bleibt dabei immer übersichtlich; und ein wenig werden die Fragen trotz ihres variierten Ausagitierens redundant. Doch könnte diese ortsbezogene Arbeit von Rimini Protokoll (es gibt auch 100 Prozent Berlin) aufgrund ihres spezifischen Informationsgehalts zum Erfolgsmodell werden - für Stadtbewohner, die mehr über sich erfahren möchten.