By Eckhard Fuhr
06.11.2006 / Die Welt
Das Hauptwerk von Karl Marx heißt "Das Kapital" und nicht "Der Kapitalismus". Es ist eine philosophisch-theoretische Schrift gewaltigen Umfangs und Anspruchs. Die kapitalistische Warenproduktion zu verstehen, hieß für Marx zu begreifen, was die Welt im Innersten zusammen hält, die Bewegungsgesetze der Geschichte bloß zu legen und damit den Schleier der Zukunft zu lüften. Das "Kapital" ist weder eine Anklage- noch eine Kampfschrift. Wie bringt man das auf die Bühne?
Im Einkaufswagen. Der ist gefüllt mit riesigen Folianten und wird von Thomas Kuczynski geschoben. Er ist Wirtschaftshistoriker, Sohn des großen Jürgen Kuczynski, der die Lage der arbeitenden Klassen unter dem Kapitalismus erforscht hat. Bei den Folianten handelt es sich um die deutsche Ausgabe in Blindenschrift. Die braucht der blinde Call Center Agent Christian Spremberg zum Vorlesen. Die zettelgespickte blaue Ausgabe des Dietz-Verlages, das Kuczynski benutzt wie ein alter Dorfpfarrer seine Handbibel, hat für Spremberg keinen Gebrauchswert, woraus sich ein Dialog entspinnt, der holterdipolter in jenes erste Kapitel der Warenanalyse führt, bei dem heute noch leuchtende Augen bekommt, wer sich je in seinem Leben ernsthaft bemüht hat, Marx auf seinem Denkweg zu folgen. Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Theaterlabel "Rimini Protokoll" haben mit ihrem neuen Stück "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" allerdings alles andere als eine unterhaltsame Einführung in die marxistische Theorie vor. Solches ergibt sich eher nebenbei, auch wenn die riesige, mit blauen Bänden, Aktenordnern und Marx-Büsten gefüllte Schrankwand, die im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspiels die Bühne füllt, die Geschichte des wissenschaftlichen Sozialismus in ihren lebensweltlichen Ablagerungen herbei zitiert. Doch da gibt es noch anderes, einen Spielautomaten etwa, und oben am Bühnenhimmel hängen rote chinesische Lampions - Verweise auf die Lebensgeschichten der Protagonisten, die auch in diesem Stück gemäß dem postdramatischen Ansatz von Rimini Protokoll als "Experten aus der Wirklichkeit" sich selbst spielen.
Im Stück "Blaiberg und Sweetheart19", das gerade im Berliner HAU gespielt wird, sind das Menschen, die mit einem fremden Herzen leben und solche, deren Herzen sich bei der Partnersuche im Netz gefunden haben. "Deutschland 2", mit dem Rimini Protokoll bekannt wurde, war eine Art Kopie einer Bundestagssitzung, bei der Bonner Bürger simultan "nachspielten", was im Parlament gerade vor sich ging. Rimini Protokoll will das Theater erneuern, indem es ihm Wirklichkeit zuführt, nicht die Welt verbessern. Die Ergebnisse müssen also als Theaterereignis überzeugen. Sie müssen mehr sein als ein Event, dessen Schauplatz zufällig das Theater ist, aber auch ein Fernsehstudio sein könnte. "Menschen bei Haug und Wetzel" genügt nicht. Das können Maischberger und Beckmann besser.
Im "Kapital" erzählen Menschen aus ihrem Leben. Neben Kuczynski und Spremberg sind das: Jochen Noth, ein führender SDS- und KBW-Aktivist, der 1969 bei einem Happening in West-Berlin Geldscheine verbrannte, lange Jahre in Peking bei einem Propagandasender arbeitete und heute Unternehmensberater mit Schwerpunk Asien ist; Ralph Warnholz, Elektroniker und ehemals Glücksspielsüchtiger; Talvaldis Margevics, ein lettischer Historiker und Filmemacher, dessen Familie vor der Roten Armee nach Deutschland floh und nach dem Krieg deportiert wurde; die Übersetzerin Franziska Zwerg, die Boris Jelzins Memoiren ins Deutsche übertragen hat; Sascha Warnecke, ein Azubi, der gerade in die DKP eingetreten ist; und schließlich Ulf Mailänder, der als Ghostwriter die Lebenserinnerungen der großen Pleitiers und Betrüger Jürgen Harksen und Jürgen Schneider geschrieben hat.
Mailänder ist der ästhetische Sündenfall, die dramaturgische Sollbruchstelle. Er ist auf der Bühne nicht er selbst, er spielt Jürgen Harksen. Und da geht es nicht ohne Anleihe beim sonst so geschmähten Repräsentationstheater. Dieser Riss macht deutlich, dass dem Stück eine überzeugende Grundidee fehlt. Die lebensgeschichtlichen Verknüpfungen mit dem marxschen Werk sind nur im Falle von Noth und Kuczynski evident, der eine trägt die Geschichte von 1968 im Leib, der andere die der kommunistischen Arbeiterbewegung und der DDR. Der eine versucht die Erfahrung mit Marx in der globalisierten Ökonomie anzuwenden, der andere hat sich dem Dienst an einer ultimativen Edition des Werks verschrieben. Komische Käuze sind beide.
Was die anderen zu erzählen haben, ist durchaus interessant, hat aber mit dem "Kapital" wenig zu tun. Der von Geburt an blinde Christian Spremberg konfrontiert das Publikum immer wieder hintergründig-witzig mit seiner Weltwahrnehmung. Über das Blindsein erfährt man an diesem Abend ebenso viel wie über das "Kapital", auch wenn das Werk im Laufe des Abends zum Mitlesen an die Zuschauer verteilt wird. Doch gerade diese Aktion wirkt wie ein etwas unbeholfener Versuch, die räumliche und zeitliche Einheit des Theatralischen gegen die auseinander laufenden Geschichten und Histörchen zu retten. Um nicht missverstanden zu werden: Es war bei dieser Uraufführung keine Minute langweilig, sondern unterhaltsam und über weite Strecken lehrreich. Aber überzeugendes Theater bietet Rimini Protokoll mit dem "Kapital" nicht. Wir erleben den Moment, in dem ein Perspektiven öffnendes Konzept in der Routine zu zerbröseln beginnt.