By Alexandra Kedves
26.02.2007 / Neue Zürcher Zeitung
Das Schicksal eines berühmten Buches ausbuchstabiert in nichtfiktionalen Einzelschicksalen aus unserer Zeit: Die experimentelle Gruppe Rimini Protokoll nutzt den ersten Band von Karl Marx' «Das Kapital» als Folie für Lebenslektüren von heute. Acht Marx-Experten, Bühnenlaien, sprechen und spielen derzeit im Schiffbau Autobiografisches. Und beweisen, dass Rimini Protokoll ein Händchen für Konstellationen mit Kick hat.
Kapitale Versuchsanlage: 751 Seiten «Das Kapital», Erster Band, 8 «Kapital»-Experten, 2 Stunden Zeit; und 1 sogenannt postdramatisches Theaterkonzept. Kapitales Ergebnis! Das im letzten November in Düsseldorf uraufgeführte Ding mit dem trockenen Titel «Karl Marx: Das Kapital, Erster Band» ist nämlich durchaus nicht unansehnlich. Schon die Bühne macht, auch für Schau- Lustige, etwas her. Das monumentale Retro- Bücherregal unter den sieben überdimensionalen Lampions, die da rot, chinesisch, ironisch von der Decke baumeln, füllt den Raum. Es ist gefüllt mit Marx-Ausgaben, Marx-Studien und marxistischen Analysen, mit Marx-Büsten, Marx-Wein- Bouteillen und sonstigen Marx-Devotionalien - und mit acht Menschen, deren Leben von Marx auf die eine oder andere Weise umgekrempelt wurde. Sie hocken, wie die Denker-Statuetten, mehr oder weniger dekorativ in den Nischen der Bücherwand, bis die Regie sie im Lauf des Abends aus dem Regal herausholt, aufklappt und in ihrem Innenleben blättert. Denn sie sind das eigentliche Kapital dieser Produktion des Labels Rimini Protokoll, die seit Samstag im Schiffbau gastiert. Sie sind die Ware und der wahre Wert des neuen Doku-Theaters, das vom preisgekrönten schweizerischen-deutschen Team Daniel Wetzel, Helgard Haug und Stefan Kaegi seit 2002 durchgespielt wird.
Marx, Engels, Ford
Talivaldis Margevics zum Beispiel. Er war noch ein Baby, als seine Mutter, ein Mädchen aus Riga, sich von den Versprechungen sowjetischer Agitatoren verlocken liess, das Flüchtlingslager in Lübeck zu verlassen. Das Wickelkind überlebte den Transport im Viehwaggon nur knapp; und beinah hätte die Mutter das bewusstlose Geschöpfchen, um sein Leben zu retten, einer polnischen Frau in die Arme gedrückt, die am Gleis stand und alles, was sie hatte, für den Buben bot. Die Verkaufsverhandlungen platzten - und Margevics studierte später in Riga und Leningrad, erkannte, dass «Das Kapital» eine Bibel war, mit der ein böser Staat geheiligt wurde, machte Filme, geriet in Schwierigkeiten. Nach der Wende gehörte er zu den Ghostwritern des lettischen Premiers; Filme macht er noch heute. All dies erzählt er in einem klangvollen Russisch, live übersetzt von der Mittdreissigerin Franziska Zwerg, die von einer Kindheit in Ostberlin berichtet.
Jochen Noth dagegen, Jahrgang 1941, galt der Wälzer tatsächlich jahrelang als Bibel. Er schwang als Gründungsmitglied des Zentralkomitees des Kommunistischen Bundes Westdeutschland Transparente, kackte dem Kapitalismus - in einem linken Anti-Film - auf den Seidenteppich, verbrannte Geld, widersetzte sich der Staatsgewalt, landete hinter Gittern und schliesslich hinter der Chinesischen Mauer. Neun Jahre China reichten zur Desillusionierung, und heute tritt er in Anzug und Weste als Geschäftsmann auf, als Geschäftsführer des Berliner Asien-Pazifik-Instituts für Management.
Ein anderer (Ex-)Jünger ist Thomas Kuczynski. Er war der letzte Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften in der DDR, und er referiert uns die Editionsgeschichte der verschiedenen «Kapital»- Ausgaben bis hin zur chinesischen, die munter streicht, ändert, säubert . . . Er zitiert die berühmten Sätze, etwa den vom Reichtum der kapitalistischen Gesellschaften, der «als eine ‹ungeheure Warensammlung› erscheint, die einzelne Ware als seine Elementarform». Und wer Kuczynski zuhört und dazu in der neuen, «blauen», der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe mitliest, die im Publikum verteilt wird, dem wird auf der Stelle klar, wieso kaum einer mit dem Brocken zu Ende kam.
Dann doch lieber die Tonpostkarte aus den 1950er Jahren anhören, die für den Ford Taunus 17 M wirbt: Christian Spremberg, Call Center Agent, intellektuell und blind (seinen Marx hat er in Blindenschrift durchgeackert), legt auf, was seine Plattensammlung zum Thema hergibt. Und das ist eine ganze Menge - und macht eine ganze Menge Spass am (Musik-)Konsum.
Anders gesagt: Die Rimini-Protokoll-Theoretiker von der Hochschule Giessen, Haug und Wetzel, die für Konzept und Inszenierung zeichnen, verstehen sich aufs Verkaufen - ihrer Wirklichkeitssuggestionen auf der Bühne. Ein philosophisches Spuktheater sorgt zwischendurch für den Comic Relief, und am Schluss maskiert sich der (echte) Autor Ulf Mailänder den Zuschauern sogar erst als Millionen-Betrüger Jürgen Harksen - dessen Story Mailänder seinerzeit nach den Gerichtsprozessen mitverfasst hatte («Wie ich den Reichen ihr Geld abnahm. Die Karriere eines Hochstaplers»).
Gegenwelten
Rimini Protokoll placiert uns zwischen Marx- Nippes, Revolutions-Nostalgie und Realitätsnöte, zwischen enttäuschte Gewerkschafter wie Ralph und ungebrochene Kämpfer wie den zwanzigjährigen Sascha. Und wir schauen uns in dieser Bibliothek berühmter Hoffnungen und berüchtigter Niederlagen, die hier als nichtfiktionale Einzelschicksale ausgestellt sind, mal gelangweilt, mal gefesselt um. Aber wenn Sascha endlich ruft: «Seien wir realistisch, eine andere Welt ist möglich!», zuckt die Sehnsucht durch alle Herzen und Hände. Applaus!