By Kai Clement
03.07.2006 / WDR (online)
Kunstprojekt von Stefan Kaegi
Der bulgarische Lastwagenfahrer Svetoslav Michev transportiert Fisch oder Pilze, Baumaterial oder Schuhe quer durch Europa. Kühltransporte mag er am wenigsten, denn wegen der verderblichen Ware ist er dann bis zu "50 Stunden ohne Schlaf" unterwegs. Diesmal hat er Lebendware: Auf dem Parkplatz des Choreographischen Zentrums PACT der Zeche Zollverein in Essen verfrachtet er mit seinem Kollegen Ventzislav Borissov 47 Fahrgäste auf die Ladefläche eines Volvo Truck FL 16 Intercooler. Wir nehmen Platz auf drei langen, in der Höhe gestaffelten Bänken und schauen durch die verspiegelte Plexiglasscheibe an der Längsseite des Trucks nach draußen. Knappe Auskunft der mit Funkmikrofonen verkabelten Fahrer: "Wir sind fertig mit Laden, der Lastwagen wird jetzt verplombt, willkommen in Bulgarien."
Kein Geld für Sex
Willkommen bei dem Kunstprojekt "Cargo Sofia-Zollverein" des Schweizers Stefan Kaegi. Er hat, so sagt er selbst, einen "gelebten Road-Movie" inszeniert. Der Regisseur der Gruppe "Rimini Protokoll" arbeitet gerne mit Schauspielern, die gar keine sind. Dafür werden die beiden bulgarischen Lkw-Fahrer auch zu dokumentarischen Selbstdarstellern. Sie steuern für gut zwei Stunden durch den Großraum Essen Orte an, die selbst Ortskundigen fremd sein dürften. Eine Truck-Waschanlage, der Straßenstrich oder die Verladerampe der Spedition Schenker, an der wir rückwärts setzend andocken. Jedes hinter der Plexiglasscheibe vorbeiziehende Objekt wird von Ventzislav und Svetoslav kommentiert, teils auf Englisch, teils auf Deutsch - in einem lakonischen Stil, der an Wladimir Kaminer erinnert. Das Publikum lernt, dass Prostituierte für Trucker - entgegen eventueller Klischees - kein Thema sind: Die Preise zu hoch, der bulgarische Fernfahrer-Verdienst zu gering. 500 Euro im Monat - Grund genug, um selbst alle Lebensmittel für die Tage oder Wochen dauernde Fahrt mitzunehmen: Konserven vom Discounter, Buletten, Moussaka, Strudel von der Verwandtschaft.
Hinter der kroatischen Grenze: Der Essener Straßenstrich
Die Außenwelt verschwindet, Leinwände fahren vor der Scheibe herunter. Darauf: Projektionen von unserer zweiten, der fiktiven Fahrt. Sie führt von Sofia nach Essen, von Bulgarien über Serbien, Kroatien, Slowenien, Italien und die Schweiz nach Deutschland. "Das dauert 50 Stunden ohne Schlaf und Pause, sonst fünf Tage." Beide Fahrten verschmelzen, wenn sich an geeigneten Stellen die Leinwand wieder öffnet, einer der Fahrer die Kabine verlässt und über das Funkmikro zu uns spricht, argwöhnisch von Passanten beäugt. Die stellen meist zu spät fest, dass sich auf dem Lastwagen ein rollendes Theater befindet, das seit Minuten amüsiert die Szene betrachtet. So wird ein Aldi-Parkplatz zur serbischen Grenze: "Ich hasse Serbien, wegen der Polizei", erklärt Svetoslav. Pro Kontrolle müsse er umgerechnet drei Euro Bestechungsgelder zahlen. Dann informiert er über Dieselpreise (1,13 in Essen, 1,15 in Italien, 1,18 in Frankreich aber nur 5 Cent in Kuwait) und dass man im Iran - wenn auch ein riskanter Tausch - für ein dort verbotenes Playboy -Heft mit Glück eine Tankfüllung von 800 Litern erhält. Der Essener Straßenstrich liegt dann kurz hinter der "Grenze Kroatien/Slowenien". "Acht Stunden Wartezeit, keine Toiletten", informiert eine Projektion.
"Die fahren uns den Hintern ab"
Teil drei der Montage von Stefan Kaegi erzählt - ebenfalls in Projektionen, Musik und Stimmen - von der Übernahme des ehemaligen bulgarischen Transportmonopolisten durch einen Reutlinger Unternehmer, der dadurch zu einem der größten der Branche aufgestiegen sei, dank Dumping-Löhnen und einer gezielten Bestechungspolitik, so die Einblendung. Mitten in der Geschichte dieses Wirtschaftscoups und kurz vor der italienischen Grenze bremst uns auf der Ruhrgebietsautobahn 40 ein Polizeiwagen aus. Auch das Teil der Inszenierung: Der freundliche Mitarbeiter der Autobahnpolizei Düsseldorf informiert über Statistiken (schon 2.500 Unfälle mit Lkw im ersten Halbjahr) und dass ein Standstreifen "mit nur 2,75 für eine Kontrolle viel zu schmal ist, da fahren uns die anderen den Hintern ab".
Stefan Kaegi bewegt sich in dem Zwischenraum von Inszenierung und Dokumentation, von Unterhaltung des hinter der verspiegelten Scheibe sitzenden Reisetheaters und des Lehrstücks über die globalisierte Welt, in der bizarr weite Transporte keine Rolle spielen, wenn nur das Ausgangsprodukt billig genug ist. Seine bulgarischen Trucker hat Kaegi übrigens über eine Anzeige gefunden. Von Theater und Publikum sei da aber nicht die Rede gewesen, so Svetoslav: "Dann hätte ich nämlich nicht angerufen!"