By LB
01.01.1970 / www.lebensaspekte.at
Es hat vermutlich jeder schon mal erlebt. Das Telefon klingelt, man hebt ab, eine unbekannte Stimme fragt: „Guten Tag, haben Sie Zeit für eine kurze Umfrage?“ Die meisten legen bereits an dieser Stelle einfach auf oder entschuldigen sich mit (erfundenen) Ausreden. Nicht besonders viele Menschen nehmen sich gerne die Zeit Fragen zum Kaufverhalten, Fernsehverhalten, Leseverhalten, Haushalt, etc. etc. etc. zu beantworten. Diejenigen, die es machen, fließen anonym in Diagramme, Statistiken, Hochrechnungen usw. ein. Sie werden zu unbekannten Repräsentanten, Zahlen, Tortenstücken – abhängig von der jeweiligen Fragestellung. Vom Leser werden sie nicht als tatsächliche Menschen erkannt. Was wenn genau diese Menschen hinter den Statistiken ihr Gesicht behalten und es ganz öffentlich zur Schau stellen? Was wenn der Entscheidungsmoment einer Umfrage öffentlich gemacht wird? Was wenn die Statistiken damit lebendig werden? Das deutsche Theaterlabel Rimini Protokoll, bestehend aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel hat sich dieser Fragen angenommen und sie im Projekt „100 Prozent Wien. Eine statistische Kettenreaktion“ verarbeitet. Die Entstehung des Projektes ist ungewöhnlich. Es wurde nur ein einziger Hauptdarsteller gecastet, passenderweise ein Mitarbeiter eines Call-Centers. Dieser schlug einen Bekannten vor, der wiederum seine Freundin mitnahm, die ihre Mutter auswählte usw. usf. Diese Kettenreaktion führte schlussendlich zu der Teilname von 100 Wienern und Wienerinnen, keine Schauspieler, eben wirklich: 100 % Wien. Einzige Bedingung für die Teilnahme: die Person musste in das ausgesuchte statistische Suchraster passen – Geschlecht, Alter, Familienstand, Staatsbürgerschaft, Wohnbezirk und Religion. Das Resultat ist ein ziemlich bunt gemischter Menschenhaufen auf der Bühne, Senioren sind genauso vertreten wie Kinder, die sichtlich ihren Spaß bei der ganzen Sache haben. Nun geht das eigentliche Projekt erst los, denn die ansonsten anonyme, telefonische Befragung wird jetzt auf der Bühne vor Fremden und Bekannten im Publikum durchgeführt. Auf sehr innovative, lustige und eindrucksvolle Weise werden der Prozess und das Ergebnis einer Befragung öffentlich gemacht. 4% der Wienerinnen und Wiener befürworten die Todesstrafe. 10% aller Wiener und Wienerinnen sind in einer Partei. 80% aller Einwohner von Wien sind für die Beibehaltung des Euro. Solche und ähnliche Aussagen liest man tagtäglich in der Zeitung und man denkt sich kaum mehr etwas dabei. Doch wenn auf einer Bühne sich 4 Menschen öffentlich dazu bekennen für die Wiedereinführung der Todesstrafe zu sein, dann wirkt dieses Ergebnis deutlich länger nach als die Statistik in der Zeitung. Die Distanz ist weg, die Nähe kann erfreuen aber auch bedrücken. „100 Prozent Wien“ befriedigt natürlich auch die kindliche Neugierde, die jedem von uns inne wohnt, wenn es darum geht, zu wissen was andere Menschen denken. Es macht Freude sich von Kleidung und Herkunft täuschen zu lassen und erstaunt oder auch erschrocken festzustellen, dass man das bei demjenigen ja gar nicht so erwartet hätte. In dieser Hinsicht ist „100 Prozent Wien“ auch ein verstecktes Toleranzplädoyer, gegen Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit. Sehr zu empfehlen!