By Conny Gellrich
28.10.2006 / Junge Welt
Was haben Herztransplantationen und Speedflirting gemeinsam? Bei beiden Handlungen spielt der Begriff Herz eine zentrale Rolle, einmal als Organ, einmal als metaphysische Größe. In beiden Fällen muß zackig agiert werden. Und beides wird in dem neuen Rimini-Stück »Blaiberg und Sweetheart 19« verwurstet, welches im Berliner HAU Eins seit Donnerstag zu sehen ist.
Das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll, bestehend aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, erarbeitet seit gut sechs Jahren dokumentarische Theaterprojekte. Zu einem Thema wie beispielsweise der Gerichtsverhandlung (»Zeugen«, 2004) oder Call Centern in Indien (»Call cutta«, 2005) sucht Rimini Protokoll Spezialisten, Experten, Betroffene, die sich für Talkshows zu schade sind, aber nichts dagegen haben, ihre Geschichte vor Publikum immer wieder und wieder zu erzählen.
Diesmal fanden sie: Heidi Mettler, die seit fünf Jahren mit einem neuen Herzen lebt, und Jeanne Epple, die Zahnbehandlungen und Frauen in Rußland vermittelt. Außerdem Christa Weisshaupt, Mutter eines Selbstmörders und Partnersucherin im Internet, Hansueli Bertschinger, Professor für Veterinärmedizin mit verstärktem Interesse an Schweinen, Nick Ganz, Veranstalter von Single-Events, und Renate Behr, Kardiotechnikerin. In einer kleinen, rechteckigen Arena auf der Hinterbühne des HAU Eins reden die sechs Experten. An den vier Wänden über den Köpfen des Publikums sind Aufnahmen aus dem OP zu sehen. Man erfährt allerlei Interessantes in dieser Aufführung: Christas Sohn hat sich vor den Zug geworfen. Damit waren seine Organe für die Nachwelt unbrauchbar geworden. Hätte er sich stranguliert, hätte sein Herz wahrscheinlich noch für ein weiteres Leben herhalten können.
Nick Ganz berichtet, im Durchschnitt seien 60 Speedatings à sieben Minuten an insgesamt acht Abenden vonnöten, um einen neuen Partner zu finden. Außerdem versucht er, im Publikum Spenderherzen zu versteigern und Singles zu verkuppeln. Wenn Jeanne Epple Eheschließungen zwischen Russinnen, die es in die Schweiz zieht, und Schweizern, die es zu sexy Mädchen zieht, vermittelt, dann rät sie den Männern, sich ordentlich anzuziehen und den Frauen, ihre Vorliebe für grellbunte Miniröcke zu zügeln.
Die Experten spielen das Internet-Rollenspiel »Second life«, in dem man sich einen »Atavar«, also Charakter seiner Wahl kreieren kann, der dann im Universum rumfliegt oder im OP Spenderherzen entnimmt. Christa hat sich ihren toten Sohn nachmodelliert. Wer an der Wirklichkeit scheitert, kann online nach Liebe suchen oder sich zur Not in die Parallelwelt »Second Life« zurückziehen.
»Blaiberg und Sweetheart 19« ist sehr unterhaltsam, durchaus interessant, spielt sich allerdings auf der Oberfläche der verhandelten Themen ab, weswegen sich weder neue Erkenntnisse noch fremde Emotionen vermitteln. Wobei der bewußte Versuch der Schweizer, Hochdeutsch zu sprechen, den authentischen Erlebnisberichten eine sonderbare Künstlichkeit verleiht. Gegen Ende gibt es ein sehr schönes Bild: Heidi steht im Dunkel in der Bühnenmitte. Sie erzählt, wie man ihr sagte, sie bräuchte ein Spenderherz, wie sie dann mit dem Auto losfuhr, ziellos und viel zu schnell. Über ihrem Kopf kreisen rote Glühbirnen, in durchsichtige Plastiktüten gepackt, wie man sie zum Transport von Herzen nutzt. Am Bühnenrand kocht Frau Epple Schweineherz auf russische Art. Die Trauer in Heidis Erzählung, das warme rote Licht und der Geruch nach leckerem Fleisch lassen ein seltsam melancholisches Gefühl von Geborgenheit entstehen. Ansonsten hat Nick Ganz meiner Freundin die E-Mail-Adresse eines interessierten Zuschauers zugeschanzt. Jetzt sehen sich beide die Homepages und Google-Vermerke des jeweils anderen an. So spart man sich das Verfassen von Kontaktanzeigen.