By Christine Wahl
01.06.2007 / Theater Heute
Wenn du Probleme hast, ruf nicht die Polizei, ruf lieber die Räuber, heißt es in einem Samba von Chico Buarque. Damit wäre das Imageproblem der brasilianischen Polizei ziemlich klar umrissen. Würde man jeden der zehneinhalb Millionen Bewohner Sao Paulos nach seinen persönlichen Kollisionen mit der Staatsgewalt fragen, bekäme man wahrscheinlich an die dreißig Millionen Anekdoten zu hören. Satte Bestechungsgelder für läppische Verkehrssünden gelten noch als die lustigsten. Und auch die Tatsache, dass man – falls man ausgeraubt wird und die Polizei das Diebesgut wider Erwarten zu beschlagnahmen schafft – Unsummen investieren muss, um es zurückzubekommen, wird hier relativ sportlich behandelt. Härter werden die Geschichten, wenn die Sprache auf die Militärdiktatur kommt. Die argentinische Schriftstellerin und Theatermacherin Lola Arias, die zusammen mit Stefan Kaegi vom Regiekollektiv Rimini Protokoll auf Einladung des Goethe-Institus in Sao Paulo eine dokumentarische Inszenierung mit brasilianischen Polizisten erarbeitet hat, ist als Kind in Buenos Aires regelmäßig vor der Polizei weggerannt. Sie hat Freunde, deren Väter von der Militärdiktatur verschleppt wurden. Brasilien lebte zwischen 1964 und 1985 auch unter einer Militärdiktatur. Dieses Thema allerdings gilt als Tabu: Gesprochen wird hier nur über die Diktaturen der Anderen. Die Polizei hat die unrühmliche Ära nie aufgearbeitet, geschweige nach der Demokratisierung Entlassungen vorgenommen. Der brasilianische Soziologe Wagner zum Beispiel, der sich ursprünglich an Arias` und Kaegis Projekt beteiligen wollte, erfuhr kurz vor dem Tod seines Vaters, dass der Teil jenes Verschleppungs- und Folterapparates war, der Anfang der siebziger Jahre auch seine Professoren eingeschüchtert und inhaftiert hatte. Auf dem Sterbebett präsentierte er seinem Sohn die Orden. Wagners Familie verweigert sich den Fakten; und letztlich hat sich der Soziologe doch dagegen entschieden, seine Geschichte in Arias` und Kaegis Projekt öffentlich zu machen. „So wie Wagner geht es ganz Brasilien“, meint Stefan Kaegi.
Dass er im Rahmen einer vom Goethe-Institut Sao Paulo initiierten Projektreihe mit deutschen Regisseuren, die auch schon Frank Castorf und Gob Squad nach Brasilien geführt hatte, ausgerechnet mit einheimischen Polizisten arbeiten wollte, stieß denn auch im Vorfeld nicht auf uneingeschränkten Jubel. Abgesehen davon, dass dokumentarisches Theater in Brasilien sowieso nicht en vogue ist, rangiert es dort für viele außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens, sich überhaupt freiwillig mit Polizisten in einen Raum zu begeben. Zum anderen existierten auch Bedenken von institutioneller Seite. Die Leitung des SESC – einer lokalen Sozialstiftung der Handelskammer, die zugleich als wichtigster Kulturanbieter und potentester –sponsor vor Ort gilt und neben dem Goethe-Institut, der deutschen Bundeskulturstiftung und dem brasilianischen Kulturministerium einen Großteil zur Finanzierung des Projekts beisteuerte – wiegte in der Konzeptionsphase erst einmal bedenklich die Köpfe: „Das Klima in Sao Paulo ist diesbezüglich extrem von Paranoia geprägt; man hatte einfach kein Interesse an einem Skandal“, erzählt Kaegi, der einen Teil seiner Kindheit als Austauschschüler in Brasilien verbracht und später auch als Regisseur schon mehrfach dort gearbeitet hat. Dabei schwebte ihm noch nicht einmal im Ansatz ein dramatisches Tribunal vor: Die Inszenierung solle „nicht verurteilen, nicht besser wissen als, sondern mitwissen als ob; zu Wort kommen lassen“, hatte Kaegi in seiner Dokumentation des Rechercheprozesses notiert.
Ein Ansatz, der umso stärker einleuchtet, je länger man die Kehrseite der Image-Medaille betrachtet: Schließlich werden in Brasilien genau jene Polizisten, die man als korrupte Ärgernisse, Schützen, Drogendealer und Waffenverkäufer kennt, auch nicht selten zu Opfern. Die tödlichen Anschläge auf Sicherheitskräfte in Sao Paulo, die die Verbrecherorganisation PCC (Primeiro Comando da Capital“ – „Erstes Hauptstadt-Kommando“) letzten Mai aus Rache für die Verlegung ranghoher inhaftierter Mitglieder in Hochsicherheitsgefängnisse verübte, sind noch gut in Erinnerung. Über 300 Polizisten starben letztes Jahr in Sao Paulo – offiziell als eine der gefährlichsten Städte des Landes eingestuft - im Dienst durch Schusswaffen. In München, wo das Projekt Ende des Jahres mit deutschen Kollegen fortgesetzt werden soll, ist – nur mal zum Vergleich - zuletzt vor dreizehn Jahren ein Polizist von einem flüchtigen Kriminellen erschossen worden. Und die Tatsache schließlich, dass ein Polizist in Sao Paulo monatlich umgerechnet 300 bis 400 Euro verdient, kann die grassierende Korruption zwar nicht entschuldigen, stellt sie aber zumindest auf einen rational gut erklärbaren Boden.
Zwei Monate lang haben Lola Arias und Stefan Kaegi in Sao Paulo recherchiert, sich die Pferdeställe der Kavallerie vorführen lassen, Gottesdiensten in der Polizeikirche beigewohnt, Polizeipsychologinnen interviewt, im Polizeimuseum Walther-Pistolen besichtigt, wie sie von der Waffen-SS benutzt wurden, und natürlich das größte Militärpolizisten-Ausbildungslager Lateinamerikas besucht. Es heißt „Chácara Paraíso“, zu deutsch: „Landsitz Paradies“; und seine dramatischen Qualitäten sind noch aberwitziger, als der Name befürchten lässt. Hier werden so naturgetreu wie möglich Favelas, die Elendsviertel des Landes, simuliert: Mit vorgehaltener Knarre stürmen die Azubis düstere Bretterverschläge, wühlen unter Sperrmüll-Matratzen nach Waffen und lernen, dass Ladehemmung nicht nur gegenüber bärtigen dunklen Männern, sondern auch gegenüber bewaffneten Minirockträgerinnen tödlich sein kann. Eine wesentliche Unterrichtseinheit besteht darin, im Stakkato auf finstere Pappkameraden und ihre lichten weiblichen Pendants zu feuern: Die Bühnenbildstadt, die im Laufe des Jahres zur stattlichen Größe dreier Fußballfelder erweitert werden soll, trainiert die Reflexe, nicht die Reflexion.
Solcherart Mimesis, die die komplexe Realität auf die Handlichkeit einer Doku-Soap schrumpft, ist für Kaegi und Co. natürlich eine dramatische Steilvorlage. Die Regisseure haben ihr Projekt nach dem Ausbildungslager benannt und dessen Logik umgekehrt: Ein reichliches Dutzend Polizisten, Ex-Polizisten und deren Angehörige treten in Arias` und Kaegis „Polizei-Kunst-Schau“, wie die Produktion im Untertitel heißt, gleichsam aus der künstlichen Realität in den expliziten Kunst-Kontext. Gecastet wurde ausdrücklich das Individuum hinter dem Funktionsträger, und die dramatischen Strategien zielen auf Reflexion statt auf Reflexe. „Chácara Paraíso“ spielt in der 14. Etage eines SESC-Hochhauses auf Sao Paulos Renommiermeile, der Avenida Paulista – angeblich der bekanntesten Straße ganz Brasiliens. In sechzehn Räumen, die die Zuschauer im Dienste größtmöglicher Intimität jeweils zeitversetzt in kleinen Sechsergruppen durchlaufen, lösen Arias und Kaegi den ganzheitlich imagegebeutelten Polizei-Apparat in lauter heterogene Einzelbiografien auf: Vom ehemaligen verdeckten Ermittler über die Telefonistin der militärpolizeilichen Notrufzentrale bis zum pensionierten Hundetrainer mitsamt der deutschen Schäferhündin Agatha.
Der Ansatz ist zwar nicht neu, aber deshalb noch lange nicht weniger wirksam. Nachdem die Wirklichkeit sich in den vergangenen vierzig Jahren ja immer weniger der Hochhuthschen Schwarzweiß-Enthüllungsdramatik und den Peter-Weiss´schen Glaubenssätzen („Das dokumentarische Theater ist parteilich“ und „tritt ein für die Alternative, dass die Wirklichkeit, so undurchschaubar sie sich auch macht, in jeder Einzelheit erklärt werden kann“) beugen wollte, ist es vielleicht das, was dokumentarisches Theater – neben der gegenständlichen Einführung in Lebenswelten, mit denen der Durchschnittszuschauer normalerweise nicht in Berührung kommt - heute leisten kann: Statt die Wirklichkeit erklären zu wollen, so weit wie möglich die Mechanismen transparent zu machen, nach denen sie konstruiert wird, und einfältigen Erklärungsschnellschüssen so eine Vielfalt einander kommentierender, vielleicht auch dekonstruierender Perspektiven entgegen zu setzen. Was in der Praxis bedeutet, dass man – statt der seligen Naivität zu erliegen, die Wirklichkeit eins zu eins aufs Theater transportieren zu können – genau umgekehrt die theatralen Momente in der Wirklichkeit aufspürt und so die eigenen Inszenierungsstrategien immer mitreflektiert. Es ist genau dieses Verfahren, wodurch die dokumentarischen Arbeiten der Truppe Rimini Protokoll mit bulgarischen Lastwagenfahrern, Mannheimer CDU-Politikern, indischen Call-Center-Angestellten oder belgischen Sabena-Pleitenopfern überzeugen.
Entsprechend stellen Arias und Kaegi zum Auftakt ihrer Installation erst einmal unter Beweis, dass aus dem (Polizisten-)Leben für jedes Genre die passende Dramaturgie herauszuholen ist – wenn man es nur klug genug darauf abklopft: Gleich im ersten Raum kann man sich - sofern da Bedarf besteht - wie Ulrich Mühe als Spitzel im deutschen Oscar-Stasi-Schinken „Das Leben der Anderen“ fühlen – mit dem glücklichen Unterschied, dass die Aussicht hier in jeder Hinsicht lohnender ist als auf Florian Henckel von Donnersmarcks pittoreskem Ostdachboden. Mit konspirativen Kopfhörern und Ferngläsern ausgestattet, sitzt man an einer Fensterfront mit freiem Blick auf die nächtliche Avenida Paulista: Die Geschäfts-, Banken- und Bürohochhäuser verbinden auf ziemlich einmalige Weise den Charme von Broadway und Wall Street mit architektonischen Realsozialismus-Anwehungen. Dazu passt die Stimme, die sich aus dem Kopfhörer als Pedro vorstellt und privatdetektivische Tipps für den Hausgebrauch zum Besten gibt, hervorragend: Orientieren Sie sich immer nach oben, empfiehlt der Zivilfahnder, die kriminelle Energie konzentriert sich in den Top-Etagen; und denken Sie daran: Jeder Rucksack ist per se verdächtig!
Zwei Räume weiter erklärt Marcel – Kontrabassist im Musikcorps mit ausgeprägtem subtilkomischen Talent -, wie man sich die klassische Orchesterprobe der Militärpolizei zu Sao Paulo vorzustellen hat: Nach wenigen Minuten Rossini brechen sämtliche Musiker in Tränen aus, weil nebenan die Schock-Truppen – brasilianische Antiterror-Elite-Einheiten – gerade die Niederschlagung eines Gefängnisaufstandes mit Tränengas proben. Zum unmittelbaren Zusammenstoß mit den Kollegen, erzählt Marcel trocken, während er die Hymne der Militärpolizei des Bundesstaates Sao Paulo spielt, komme es dann tatsächlich am ehesten im Knast: Nämlich, wenn die Musiker nach einem karitativen Resozialisierungskonzert vor den Delinquenten ihre Instrumente einpacken und direkt den Schock-Truppen die Klinke in die Hand geben, die mit Großaufgebot wegen einer Häftlingsrevolte angerückt sind. Charlie Chaplin hätte daraus sicher eine großartige Komödie gemacht.
Bevor sich allerdings der Verdacht ausbreitet, die brasilianische Polizei sei eher ein Satiren-Fundus als ein harter staatsgewaltiger Apparat, ist es schlagartig vorbei mit Spionage-Romantik und Chaplin-Assoziationen: Die Biografien der Menschen, denen man in den folgenden Räumen jeweils zu zweit an einem Schreibtisch gegenübersitzt, klingen derart romantikfrei, dass man sich aus mancher Dialogsituation nicht ungern einfach ausklinken würde. Cleber zum Beispiel, ein junger Mann um die dreißig mit hipper Glatze, den man am ehesten an einem großstädtischen Plattenteller vermuten würde, stellt sich als suspendierter Polizist und gegenwärtiger Kurierfahrer vor. Nach fünf Minuten wissen wir, dass er in einer Kneipe einen Mann getötet hat. Ob er wirklich selbst daran glaubt, dass es Notwehr war, ist schwer zu sagen: Cleber hat sich mit einer coolen Selbstinszenierungstaktik munitioniert. Demnächst beginnt sein Mordprozess. „Schlimmstenfalls muss ich für zwölf bis dreißig Jahre in den Knast, aber wenn alles gut geht, werde ich freigesprochen und kann zurück zur Polizei“, beschließt er die dramatische Fünf-Minuten-Session im Protokoll-Stil. Cleber liebt seinen Beruf: „Polizist zu sein war für mich keine Arbeit“ sagt er, „sondern ein Kindheitstraum.“
Seinem Kollegen Luis Carlos hinter der nächsten Tür hingegen kann man beim besten Willen nicht verdenken, dass er den Polizeidienst ein- für allemal quittiert hat. Er zeigt uns ein Foto, auf dem er gemeinsam mit seinen Freunden aus der Ausbildungszeit zu sehen ist. Der erste –Luis Carlos deutet auf einen hübschen Dunkelhäutigen – verunglückte tödlich bei einem Streifenwagenzusammenstoß. Der zweite wurde entlassen, weil er seinen Berichtsbogen gefälscht hatte. Der dritte wechselte zum privaten Wachdienst in einem Supermarkt, entführte und tötete dort den Sohn des Besitzers und sitzt jetzt im Knast, während der vierte bei einem Überfall erschossen wurde. Der fünfte kann sich glücklich schätzen: Er bekam bei der Festnahme eines Dealers lediglich einen Armschuss ab. So gesehen hatte der sechste eigentlich noch gar nichts auszustehen in seinem Berufsleben: Die flüchtigen Kriminellen, die ihn einmal als Geisel nahmen, setzten ihn lediglich nackt auf der Straße ab. Luis Carlos verdient sein Geld jetzt als Taxifahrer hinter abgedunkelten Scheiben.
Nach diesem Querschnitt durch brasilianische Polizisten-Karrieren wirken die strahlenden Ordnungshüter, die – unterlegt mit dem Queen-Song „We are the Champions“ - im abschließenden Video aus der polizeilichen PR-Abteilung triumphale Rettungsaktionen auf Hochhausdächern simulieren, wie eine schlechte Farce. Der letzte „Champion“, dem man in Arias` und Kaegis Installation begegnet war, hatte vor Jahren zwei Männer nach einem Supermarktüberfall bis in die Favela verfolgt und den Einsatz nur deshalb überlebt, weil der Revolver der Flüchtigen gleich zweimal hintereinander versagte. Dabei kennt Oliveira das Regelwerk, das er im Ausbildungslager erlernt hat, in- und auswendig: Mann mit Bart und Geisel: Nicht schießen! Gut aussehende Frau mit Revolver: Schießen! Reporter mit Fotoapparat: Nicht schießen!
Der Fall „Reporter in der Favela“ tritt nicht allzu oft ein: Von Besuchen in den Armenvierteln der Stadt, in denen offiziellen Schätzungen zufolge mindestens ein Viertel der Einwohner lebt, wird dringend abgeraten. Aber Rodolfo García Vázquez ist ein sicherer Begleitschutz, wenn man die Simulation an der Realität überprüfen will. Und Rodolfo hat noch einmal eine ganz andere Geschichte darüber zu erzählen, wie in Sao Paulo das Theater mit der Wirklichkeit zusammenhängt, als Arias und Kaegi. Er leitet seit Jahren – „für das bürgerliche Publikum“, wie er sagt - ein Theater auf der Praca Roosevelt, wo zurzeit ein sehr kopulationsfreudiges de-Sade-Stück läuft, und ist gerade dabei, eine zweite Bühne in einer Favela zu eröffnen. Wir treffen uns in der malerisch begrünten Innenhof-Idylle des Goethe-Institus, das auf einem kleinen Hügel unweit der Rua Oscar Freire liegt. Man muss sich diese Straße als eine Art brasilianische Fifth-Avenue-Version vorstellen: Hier kauft man bei Armani und Co., und die kreativsten Boutiquen haben ihre Schaufenster mit Kunsttümpeln ausgestattet, in denen exotische Fische vor den preisgesenkten Achthundert-Euro-Kleidern herumschwimmen. „Alles klar, ich habe mit den Drogenbossen gesprochen“, sagt Rodolfo zur Begrüßung in tadellosem Deutsch: Er liebt Berlin.
Die Dealer kontrollieren die Armenviertel; man muss von ihnen eine Art Besuchserlaubnis einholen. Rodolfo hatte keine Probleme: Die Drogenbosse finden Theater großartig. Sie würden die Tatsache, erzählt er, dass die Favela-Kinder etwas Sinnvolles zu tun bekämen, außerordentlich begrüßen. Einige dieser „Kinder“ bildet Rodolfo in seinem Theater an der Praca Roosevelt zu Technikern und Beleuchtern aus. In der Favela will er auch auf der Bühne mit ihnen und ihren Biografien arbeiten. Mittlerweile fließen ein paar öffentliche Gelder, aber der Großteil der Investition heißt: Privatenthusiasmus. Es kommt schon mal vor, dass die „Kinder“, zumeist Jungs zwischen sechzehn und Anfang zwanzig, Rodolfo und seine Kollegen beklauen und bedrohen. Gestern hat er erfahren, dass einer seiner Lehrlinge auf Probezeit vor ein paar Jahren einen Polizisten erschossen hat.
Wir fahren schon seit einer kleinen Ewigkeit: Sao Paulo ist riesig. Wenn hier jemand sagt, etwas sei „gleich um die Ecke“, meint er, dass man lediglich fünfzehn Minuten im Taxi sitzt. Draußen tauchen Wellblechhütten und Bretterverschläge auf; die Atmosphäre erinnert an ein seit Jahrzehnten stillgelegtes Industriegebiet. Nach einer Dreiviertelstunde halten wir vor einem Friseurladen in einer ziemlich belebten Straße mit vielen Billigläden. Woolworth-City fällt einem am ehesten ein, wenn man nach einer Beschreibung für dieses Areal sucht: Es ist weit weniger Berlin-unkompatibel, als man sich das vorgestellt hatte. Im Friseurladen sieht es spartanisch, aber gemütlich aus: Zwei junge Männer hocken auf einem charmant heruntergewirtschafteten Sofa und haben sich offenbar ziemlich viel zu sagen. Der Laden scheint eine Art Kiez-Treffpunkt zu sein. Aus dem Hinterzimmer tritt der Friseur, ein drahtiger Mann um die vierzig mit hellbraunem Teint und kurzen blondierten Strähnen. „Unser Projektleiter“, stellt Rodolfo ihn vor. Der Friseur ist ein großer Fan des Theaters an der Praca Roosevelt. In der Favela kennt er jeden: Die Idealbesetzung für das Networking vor Ort. Vorsichtshalber steigt der Projektleiter als Begleitschutz mit ins Auto, als wir zum Theater fahren. Die Straßen werden trister: „Das Haus liegt genau an der Grenze zwischen dem edleren und dem armen Teil der Favela“, erklärt Rodolfo. Es wirkt mit seinen zwei Stockwerken und dem kleinen Café zur Straße auf jene charmante Art morbid, wie man es auch von Berliner Hinterhof-Theatern kennt. Wenn man allerdings im Obergeschoss aus dem Fenster schaut, blickt man auf einen Müllberg von mittlerer Wohnzimmergröße, auf dem alte Männer offenbar nach allem suchen, was in irgendeiner Weise recycelbar ist. Eine Ecke weiter hört die Straßenasphaltierung auf. Rodolfo kurbelt die Fensterscheibe hoch, und das Auto holpert, weil es nachts geregnet hat, hilflos durch den Schlamm. Die Infrastruktur ist hier nicht für Autos gedacht: Man ist entweder zu Fuß oder auf alten Fahrrädern unterwegs. Viele kleine, auffallend hübsche Kinder schauen dem Wagen lange nach. Sie sitzen vor Wellblechhütten und schlichten, quaderförmigen Betonbauten. „Die Leute bauen hier alles selbst“, kommentiert Rodolfo. „Oft stürzen die Häuser einfach wieder in sich zusammen.“ Man sieht keine Läden mehr – oder man erkennt sie nicht. Wenn es überhaupt irgendwo ein Hinweisschild gibt, ist es handgeschrieben. „Eine Kirche“, sagt Rodolfo und zeigt nach rechts auf einen Betonquader, der aussieht wie ein Geräteschuppen. Links gegenüber graben Männer bei fünfunddreißig Grad Hitze angestrengt im Schlamm. „Sie legen die Kanalisation. Wir befinden uns hier“, erklärt Rodolfo, „in einer der nobleren Favelas.“ Das heißt: Es gibt Wasser und – illegal abgezapften – Strom.
Wenn man die Männer anschaut, weiß man, dass es kein Witz ist, wenn im Jobprofil für den brasilianischen Polizeidienst steht, Bewerber müssten mindestens zwanzig Zähne haben. Denn nicht wenige Polizisten stammen original aus diesen Armenvierteln, deren Simulationen sie dann während der einjährigen Ausbildung – acht Monate Theorie, vier Monate Praxis - zu stürmen lernen. 400 Euro, jeden Monat, ist hier sehr viel mehr als nichts. „Du warst gerade in einer Realität unterwegs“, sagt Rodolfo zum Abschied, „die viele Brasilianer noch nie gesehen haben.“
Stefan Kaegi und Lola Arias werden ihr Polizei-Projekt im Winter beim Münchner SpielArt-Festival fortsetzen. Aber Realitäten lassen sich – Simulation hin oder her – bekanntlich nicht einfach importieren. „Wir werden sechs der brasilianischen Polizisten mitbringen und sie sechs deutschen gegenüberstellen – auf einem Fußballfeld“, sagt Kaegi. Denn abgesehen davon, dass es sich beim Fußball bekanntlich um „die einfachste Stufe der deutsch-brasilianischen Begegnung“ handelt, simuliert die Polizei in Deutschland keine Favelas, sondern: Hooligan-Ausschreitungen in Fußballstadien. Insbesondere in München, erzählt Kaegi, wurden letztes Jahr vor der Fußballweltmeisterschaft so genannte Ernstfälle mit mehr als 600 Teilnehmern trainiert. Die Hälfte der Polizisten mimte dabei die Hooligans und ging Kaegis Recherchen zufolge derart hart zur Sache, dass es hinterher betriebsinterne Probleme gab. Der „Ernstfall“ – die WM – konnte da nicht ansatzweise mithalten. Manchmal ist das Theater der Wirklichkeit eben haushoch überlegen.