By Ute Baumhackl
14.12.2024 / Kleinezeitung.at
Stocken, stillstehen, stecken bleiben. Mit dieser Erfahrung befasst sich am Wiener Volkstheater Regisseurin Helgard Haug in ihrer „Kipp-Punkt-Revue“ mit dem Titel „Ever Given“. Der Name des Frachtschiffs, das 2021 im Suezkanal auf Grund lief, durch diese sechstägige Blockade globale Handelskreisläufe zum Stillstand brachte, Konjunktureinbrüche und Ölpreissteigerungen nach sich zog, wird dabei zur übergroßen Chiffre für biografische Umbrüche und ihre Folgen. Das hat Haug, die dem Theaterkollektiv Rimini Protokoll angehört, so ähnlich schon einmal versucht: In der Volkstheater-Koproduktion „All right. Good night.“ verwob sie das Verschwinden des Passagierflugzeugs MH370 und die Demenzerkrankung ihres Vaters zu einer fesselnden Meditation über das Verlorengehen. Das Stück wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen und von der Fachpostille „Theater heute“ zur Inszenierung des Jahres 2022 gewählt.
In „Ever Given“ stellt Haug nun fünf Expertinnen und Experten für ins Stocken geratene Lebensläufe auf die Bühne. Es ist ein Kreislauf der Stillstände: Da ist die bildende Künstlerin Marianne Vlaschits, die als Stotterin und via Video an der Aufführung teilnimmt. Sie werde sich für ihr arrhythmisches Sprechen nicht mehr schämen, erzählt sie, und lädt zum Verweilen „in den Lücken und Nischen“ ihrer Sprache ein. Die Eiskunstlauftrainerin Michaela Gorsch-Fischer berichtet von „falschen Gelenken“ und Verletzungen, die eine Sportkarriere auf dem Eis beendeten. Der in Berlin lebende ägyptische Sänger Adham Elsaid erzählt von Orpheus, dessen Musik die Welt zum Innehalten brachte, und davon, wie ihm nach einer Polioerkrankung als Kind die Sehnsucht des Vaters nach einem „perfekten Sohn“ eine verpatzte Operation und ein Leben im Rollstuhl bescherten.
Hübscher Gag: Auch eine digitale Plakatwand, die 2021 in einem Frachtcontainer auf der Ever Given transportiert wurde, reiht sich ins Bühnenpersonal – um, nicht ungeschwätzig, vom Wahnsinn des globalen Warenverkehrs zu erzählen.
Aus diesen Stimmen, aus Verweisen und Fußnoten destilliert der Abend - in einer Kreislauferzählung in sechs Etappen und auf den furiosen Livesound von Barbara Morgenstern und Daniel Eichholz gebettet - ein reflexives Mosaik von Stillstand, Zäsur, Kurswechsel. Man könnte seine fluffige Poesie auch etwas beliebig finden, rettete den Abend nicht der fünfte Protagonist vor allzu viel Gefühligkeit: Der syrische Jurist, Künstler und queere Aktivist Hana Hazem Arabi wird mit seiner bestürzenden Fluchtgeschichte voller Gefahren, Um- und Rückschläge zum Herz der zweieinhalbstündigen Produktion, die dem Publikum absichtsvoll nur Zwischenstationen, aber kein eindeutiges Ende beschert. Folgerichtig soll jede Aufführung an einem neuen Punkt beginnen und enden. Die Kreisläufe der Welt, man kann sie unterbrechen, aufhalten lassen sie sich nicht.