Keine Heilanstalt, sondern Museum

Stefan Kaegi über das Theater als Kommunikationsraum, seine Arbeit mit Spezialisten und das Gefühl der Scham

By Nina Peters

01.10.2006 / Theater der Zeit

TdZ: Momentan tourst Du mit einem umgebauten LKW mit mobilem Zuschauerraum durch Europa. Wie sieht das aus?

Stefan Kaegi: Wir haben in eine Seite eines alten Fleischtransporters ein 10 Meter langes Fenster eingebaut. Die 50 Zuschauer sitzen seitwärts in einer klassischen Guckkastensituation, nur dass hinter der „vierten Wand“ Realität vorbeifährt – mit bis zu 65 km/h. In jeder Stadt suchen wir neue Bühnenbilder: Tankstellen, Verladerampen, Containerbahnhöfe, Kühlhäuser... wo Lastwagen verkehren, sieht es in den verschiedensten Städten doch immer ähnlich aus. Menschenfremd. Von innen ist der Lastwagen wie ein sehr breites Kino: Die Fensterfront wirkt wide-screen, ein Musiker synchronisiert die Stadt hinter der Scheibe live zu einem holprigen live Road Movie, den man aus der Perspektive eines Stücks Ware erlebt. Ware, wie sie von meinen beiden bulgarischen Fahrern Vento und Svetoslav seit 20 Jahren quer durch Europa gefahren wurde: Fisch nach Spanien, Autoteile in die Türkei, Wassermelonen für Polen und Blaupunkt-Bildschirme zurück nach Bulgarien. Die Stimmen der beiden kommen die ganze Fahrt über live aus der Kabine: Sie erzählen ihr Leben und schimpfen über den Verkehr.

TdZ: In einem Text, den Du für das Magazin des Theater Basels über die Recherche zu diesem Projekt geschrieben hast, „auf dem Beifahrersitz eines Fallbeispiels“, heißt es: „Während Europa zu einer Wertegemeinschaft wächst, verschiebt sich das Wertlose an seine Ränder. Bulgarien, Türkei, China… Wie weit weg muss Arbeit sein, damit unsere Werte für sie nicht mehr gelten?“ In wieweit spielen solche Fragestellungen in der Performance eine Rolle?

S.K.: In den 90er Jahren übernahm die Reutlinger Spedition Willi Betz den bulgarischen Staatstransporteur Somat und wurde mit über 8000 Lastwagen zum grössten Logistiker Europas. Bulgaren fahren die jährlich um 10 Prozent wachsenden Transporte Osteuropas in den Westen – für ca. 500 Euro im Monat. Ostkonditionen, die in Bulgarien durchaus okay sind, aber eben nicht da wo die Arbeit jetzt ausgeführt wird. Im Stück erzählen Vento und Svetoslav, wie sie für Europa arbeiteten, lange bevor sie dazu gehörten, wie sie an den Tankstellen vor Basel, Madrid oder Avignon übernachten, ohne die Stadtzentren je gesehen zu haben, wie sie Gemüse ein- und ausladen und mittags zwischen Reifen und Tank Konserven aufwärmen, weil das Geld nicht für die Raststätte reicht.

TdZ: Kannst Du einen bestimmten Impuls Deiner künstlerischen Tätigkeit benennen. Heißt der Engagement?

S.K.: Eher Neugierde. In der Schweiz sagt man „es nimmt mich Wunder“: Mich interessiert, wie die Menschen leben, über die ich in kleinen Zeitungsartikeln unter Schlagwörtern lese: Auffahrunfall, Übermüdung, Korruption, Lastwagenblokade auf der Autobahn... Mich interessiert, wer meine Melonen in den Supermarkt fährt. Die Fahrer haben ja ihr Zuhause in der Kabine dabei. Türkische Fernfahrer ziehen vor dem Einsteigen gern die Schuhe aus. Mitteleuropäer kennen die osteuropäischen Fahrer nur als Problemfälle, als akustische oder ökologische Belastung, kaum jemand hat mit ihnen gesprochen – die meisten Fahrer verstehen eh nur Worte wie „Bakschisch“ und „Passport“ – was sie eben am Zoll brauchen.

TdZ: Deinen Arbeiten geht immer eine lange Recherchearbeit voraus. Wonach suchst Du, nach Aufklärung?

S.K.: Ich suche nach Ich-Erzählern eines Romans, der sonst nur durch die Statistiken der Eurokraten erzählt wird. So wie ein Journalist oder ein Dokumentarfilmer auf die Suche nach O-Tönen geht: Argentinische Pförtner, Basler Modelleisenbahner, belgische Redenschreiber, Zürcher Kardiologen... Zuhören, Protokollieren.. Die Arbeit ist der eines Lektors näher als der eines Autoren. Die Geschichten sind ja schon alle da. Es gilt, sie einzurahmen, auszuwählen und zu fokussieren, so dass ein Publikum Lust bekommt, sie mit dem eigenen Hermeneutik-Mikroskop zu durchleuchten.

TdZ: Spekulierst Du beim Inszenieren auf eine bestimmte Wirkung auf den Zuschauer?

S.K.: Du meinst wie ein Arzt, wenn er dem Patienten ein Medikament gibt? – Die Zuschauer sind doch nicht krank. Der größte Fehler der Aufklärung liegt in der Annahme, die Menschen seien nicht mündig. Das Theater ist keine Heilanstalt sondern ein Museum, in dem die Dinge und Menschen aus einer gewissen hektischen Kausalität herausgehoben erscheinen. Zwecks Kontemplation. Dazu sind weder die dicken weissen Mauern des Museums notwendig noch die schwarzen Hänger der Theater. Es geht um eine bestimmte Konzentration von Aufmerksamkeit. Die wichtigste Inszenierungsarbeit geschieht im Kopf des Zuschauers, die macht er selbst mit seinem Blick. Ich bin dafür zuständig, den Blick zu richten und das Denken im Fluss zu halten – wie jeder andere Entertainer.

TdZ: Schiller hat in seinem Essay, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, formuliert: „Die Bühne trägt zur Aufklärung des Publikums bei, eine Aufgabe, die umso wichtiger ist, da die „größere Masse des Volkes an Ketten des Vorurteils und der Meinung gefangen liegt, die seiner Glückseligkeit ewig entgegenarbeitet.“ Wie liest Du heute so einen Satz?

S.K.: Beim Wort Aufklärung haben wir in der Primarschule immer kichern müssen, weil wir das, was die uns erzählen wollten schon wussten. Später haben wir Kant gelesen und uns über den kategorischen Imperativ geärgert. Dass wenn einer was tut, es alle tun sollen, schien uns uniformierend. Auch bei Schiller hat das einen säuerlich normierenden Ton. Ich bin froh über Menschen, die Meinungen haben, ich höre ihnen gerne zu, und merke, wie ich sie dabei verunsichere. Lustigerweise ist dabei der Begriff Theater ein wunderbarer Katalysator. Die längste Zeit unserer Recherchen verbringen Helgard, Daniel und ich ja damit, Menschen in Büros, Operationssälen und an Ladentischen zu besuchen, und mit ihnen zu überlegen, was für ein Stück Theater sie in ihrem Leben spielen. Da ist Schiller sehr weit weg. Jeder kennt das Gefühl, in der täglichen Erfindung seines Lebenswegs eine Rolle zu spielen. Eine Soziale. Eine selbst Erfundene oder die Eigene. Eine nie Geprobte und doch eine sich irgendwie immer Wiederholende. Man muss ja dauernd seine Erinnerungen erfinden.

TdZ: Das Wechselverhältnis von Moral und Ästhetik lässt sich an „Deadline“ diskutieren. Von Herbert Blau stammt die Aussage, dass es sich bei jedem schauspielerischen Akt darum handelt, dass da jemand vor unseren Augen stirbt. „Deadline“ handelt vom Tod, allerdings in einem anderen Sinn. Eure Akteure beschrieben die Mechanismen der Bestattung. Bei mir regte sich damals ein Widerstand: Die Reduzierung des Todes eines Menschen auf die Kette der Mechanismen der Entsorgung erschien mir als zu nüchtern...

S.K.: Stimmt, das hat uns bei der Recherche auch überrascht: Wie seriell das Sterben in Bestattungsinstituten organisiert wird. Wie ökonomisch ein Mensch nach optimaler Brenntemperatur betrachtet werden kann. So haben sich die Menschen eingerichtet, die in diesem Berufsfeld arbeiten. Vielleicht zu nüchtern... Aber an den Rändern dieser Effizienzmaschine taucht ja auch die Grenze der Rationalität als existentialistisches Credo auf: Wenn wir selber entscheiden, wann wir die lebenserhaltenden Maschinen ausschalten, müssen wir diesen Zeitpunkt selber mit Sinn füllen.

Im Theater werden ja täglich Könige, ihre Opfer und Märtyrer mit viel Theaterblut ermordet. Zwischen all diesen Helden, die uns ihre Tode als Widerstand oder Schicksal vorspielen, hat das Theater die Situation aus den Augen verloren, in der 95 Prozent von uns sterben werden: langsam, im Krankenhaus, im Bett, ohne Geschrei... ohne Publikum.

TdZ: Haben moralische Kategorien in ästhetischen Debatten überhaupt was zu suchen?

S.K.: Ich wäre froh, wenn das Theater nicht nur eine aesthetische Debatte wäre. Die Avantgarden der 80er Jahre haben sich in formalen Experimenten verrannt, die 90er haben die Bühnen zum Szenenpartyraum gemacht. Ich mag Theater eher als Kommunikationsraum, in dem sich Menschen aus ihren Nischen heraus betrachten und ihre Fernsteuerung reflektieren. Ein Sockel auf dem wir Menschen begegnen, die auf der anderen Seite der Stadt leben.

TdZ: Ist die Bühne nicht vielmehr ein sozialer Ort ist, auf der es richtig ist, das Inadäquate, das Verantwortungslose, zu tun?

S.K.: Das Verantwortungslose tun? Ja, warum nicht. Aber meistens tun die Theater ja nicht das Verantwortungslose, sondern sie tun so als ob. Hinter dem Bild des wilden, verantwortungslosen Künstlers steckt ein Geniemythos, der etwas narzistisch Sinnentleertes hat. Mich interessieren eher Biographien von Menschen, die länger gelebt haben und deren Lebenserzählung nicht durch Kunsthandwerk verstellt ist. Wer Botschafter seiner selbst ist, hat etwas zu verlieren. Wir befassen uns weniger damit, was Menschen können, als damit, wer sie sind und als wen sie sich sehen.

TdZ: Was war der Grundimpuls für die Arbeit „Deutschland 2“, bei der Du mit Rimini Protokoll die Kommunikationsstrukturen einer Bundestagsdebatte mit Bürgern nachgestellt hast? Wolfgang Thierse verbot die Aufführung übrigens im Bonner Bundestag und argumentierte moralisch.

S.K.: Wir haben im Bonn, das nicht mehr Hauptstadt war, über Zeitungen Menschen gesucht, die für einen Tag einen Volksvertreter vertreten wollen. Innerhalb von wenigen Tagen haben sich zweihundert gemeldet: Lehrer, Apothekerinnen, Taxifahrer, Studentinnen, Banker, Soldaten.. Menschen, die sich aus persönlichen Gründen für Politiker und für das ehemalige Bundestagsgebäude interessierten. Wir wollten mit ihnen in diesem Parlament, wo – von der Sitzverteilung bis zur Polsterung – alles noch genau so aussah wie aus dem Fernsehen bekannt, eine ganze Bundestagssitzung simultansprechen. Durch den Kopfhörer die Worte live aus Berlin hören und mit wenigen Sekunden Verzögerung durch den eigenen Mund wiedergeben. Ein Teilnehmer sagte, er wolle die Stimme, die er an der Urne abgegeben hatte noch einmal – als akustische Stimme– in den eigenen Mund nehmen. Die FAZ schrieb: Polit-Karaoke. Die meisten unserer Teilnehmer verbanden tatsächlich mit Politik einen gewissen Personenkult, der bestimmt nicht gegen die Politiker gerichtet war. Wolfgang Thierse sah die Würde des Bundestages gefährdet –wir haben von ihm leider nie die Gelegenheit bekommen, ihm zu erklären, dass Kopiervorgänge nichts Entwürdigendes haben, sondern eher das Original bereichern. Wir wollten nicht nachäffen sondern nachvollziehen und rekonstruieren. Als wir dann in einer Ausweichhalle tatsächlich von morgens um neun bis nachts um 1 Uhr alles sprachen, was die Politiker in Berlin von sich gaben, wurden diese Texte gerade jenseits vom geschulten Medienkörper der Politstars zu neuen Erzählungen.

TdZ: Die Kunst, so Schiller, wirkt auf den Handlungsimpuls, auf das Gewissen des Menschen. Sie sollte „Wegweiser durch das bürgerliche Leben“ sein. Der Ruf nach solchen Wegweisern, nach moralischen Standpunkten, ist ungebrochen. Oder, wie Carl Hegemann es formuliert hat: „Niemand, der eine Kindheit hatte, soll behaupten, er sei von derlei Sehnsüchten frei.“ Wie stehst Du dazu?

S.K.: Als Wegweiser durch das bürgerliche Leben bin ich glaub eher ungeeignet. Ich habe nicht mal eine feste Wohnadresse.

TdZ: Deine Arbeiten zeichnen sich durch eine Arbeit mit Laien...

S.K.: ..- nicht Laien! Spezialisten! Unsere Experten sind in ihrem jeweiligen Metier höchst professionell!

TdZ:...und ein Grundinteresse an Biografien aus. Ich glaube Johannes Rau war es, der die Ost- und Westdeutschen dazu aufforderte, sich gegenseitig ihre Geschichten zu erzählen. Hat in einer Zeit, in der wir mit privatem Quatsch auf allen Kanälen zugemüllt werden, der sehr direkte, scheinbar unverstellte Blick auf den Menschen, eine neue (ethische) Qualität?

S.K.: Natürlich: Der Fernseher trennt, die Begegnung verbindet. Wir sind immer wieder erstaunt, wieviele persönliche Kontakte zwischen unseren Darstellern und ihrem Publikum entstehen und bestehen bleiben. Unsere Call-Centre-Operators, die drei Monate lang aus Indien Publikum mit Mobiltelefonen durch ein ihnen unbekanntes Kreuzberg navigierten – haben heute noch intensiven E-Mailkontakte mit Berliner Zuschauern, in deren Ohr sie Wege und Geschichte erklärten, dazwischen Geräusche machten und sangen, denen sie aber persönlich nie begegnet sind. Vielleicht sollte man Johannes Rau mal eine Inszenierung anbieten. Ich glaube jedenfalls auch, dass es eine Sehnsucht danach gibt, Menschen in die Augen zu schauen.

TdZ: Bei der Diskussion der Arbeit mit Laien steht immer auch der Vorwurf im Raum, dass diese Menschen als nicht professionelle Schauspieler ein größeres Risiko eingehen, sich zu blamieren. Beim Zuschauer entsteht ein Eindruck von Authentizität, weil authentisch das Nicht-Inszenierte, die Lücke im Inszenierungssystem ist. Kommst Du möglicherweise über das Spiel mit Laien eine bestimmte gesellschaftliche Stimmungslage, an moralische Standpunkte, heran?

S.K.: Wenn man unsere Darsteller als Laien bezeichnet, unterstellt man ihnen, sie würden irgendeines der Handwerke, die an deutschen Schauspielschulen bis zur Entstellung gedrillt werden, ausüben wollen – es nur nicht richtig können. Über das eigene Leben erzählen ist nun wirklich kein Monopol, das darstellende Künstler gepachtet haben. Es geht dabei ja weder darum, etwas besonders präzise wiederholen zu können, noch darum, besonders authentisch zu scheitern. Wenn Lastwagenfahrer fahren und dabei Geschichten erzählen, geht es mir nicht darum, dass sie das besonders virtuos machen, sondern darum dass sie es machen. Wann sitzt man schon zwei Stunden auf dem Beifahrersitz eines Fremden, der die eigene Stadt an den Punkten, wo er zu laden gewohnt ist, besser kennt als man selbst.

TdZ: In „Zeugen“ gab es einen Akteur, der so leise, verschüchtert gesprochen hat, dass man sich fast ein bisschen für ihn schämte. Kennst Du diese Scham auch?

S.K.: Nein. Herr Weissgerber hatte eine sehr leise Stimme, dafür braucht sich niemand zu schämen.

TdZ: Distanz zu sich selbst, so der Anthropologe Helmuth Plessner, ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch Würde erlangen kann. Ich schäme mich als Zuschauer für einen Laien, wenn ich den Eindruck gewinne, dass er diese Distanz nicht herstellen kann. Was fange ich mit dieser Scham an?

S.K.: Deshalb arbeiten wir ja nicht mit Laien. Dass unsere Experten, mit denen wir über Monate hinweg über sich, über ihre Vergangenheit und über das Theater diskutieren, keine Distanz zu sich hätten, ist ein Vorurteil, das du gerne in einem persönlichen Gespräch mit Slavco, Vento oder mit einem unserer Zürcher Herz-Spezialisten aus „Blaiberg und sweetheart19“ überprüfen kannst.

Ich höre gerne Menschen zu, deren Erzählung nicht von Sendungsbewusstsein und Selbstgefälligkeit verstellt ist. Vielleicht müsste man Zuschauer als Laien bezeichnen, wenn sie keine Lust hätten, sich Menschen ohne Sprechausbildung zu stellen. Glücklicherweise haben wir dieses Problem nicht. Die Vorstellungen von Cargo Sofia sind dauernd überbucht – von Menschen, die sich gerne mit anderen Menschen auseinandersetzen – jenseits von Schillers Bevormundungsmaschinerie.


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