By Georg Kasch
11.04.2019 / nachtkritik.de
Ja, es ist möglich, die Tourette-Tics zu unterdrücken. Benjamin Jürgens demonstriert das einmal: Seine Stimme wird dünn, klingt gepresst, seine Mimik wirkt steif, unnatürlich, als hielte er die Luft an, seine Augen treten hervor. Lange hält er die Qual nicht durch – es ist, als ob er wieder atmen dürfte.
Tourette kann aber auch ziemlich witzig sein. Als im letzten Drittel des Abends der hessische SPD-Landtagsabgeordnete Bijan Kaffenberger auftritt und seine Bedingungen dafür aufzählt, bei diesem Abend mitzumachen, nennt er als ersten Punkt: "Ich will das Honorar spenden." - "Affäre" ergänzt Christian Hempel von hinten intuitiv und schneller, als man denken kann. Ein Brüller!
Die Nervenkrankheit Tourette zwingt Menschen dazu, Bewegungen auszuführen und Geräusche zu machen, über die sie keine Kontrolle besitzen – Tics. Aber sie befähigt sie auch zu rasantem Denken, zu erhöhter Kreativität. Zugleich fühlen sie sich oft von Reizen überfordert, werden von selbstverständlichsten Dingen getriggert – Unordnung, Lautstärke, Überangebot. Einmal erzählt Jürgens von der Qual, ins Theater zu gehen: Wie er schon für die Anreise ewig brauchte, weil ihm die Bahnen zu voll waren, wie ihn das Foyer-Gewimmel überforderte. Wie ihm, trotz aller Konzentration und Anspannung, in der Aufführung dann doch irgendwann "So ein Blödsinn!" rausrutschte, der Schauspieler aus der Rolle fiel, sich im Text verhedderte. In der Pause ist Jürgens gegangen.
Jetzt steht er zusammen mit Hempel, Kaffenberger und Barbara Morgenstern auf der Bühne des Bockenheimer Depots. Gemeinsam mit Helgard Haug von Rimini-Protokoll haben sie den Abend "Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn" entwickelt, eine Koproduktion von Schauspiel Frankfurt und Künstlerhaus Mousonturm. Über Tourette. Aber auch über das Theater, seine Limitierungen und Möglichkeiten. Wer schaut hier wen an? Wer ist warum die Attraktion? Lässt sich die Zuschauer-Perspektive umdrehen?
Einerseits ist das ein typischer Rimini-Protokoll-Abend: Er ist klar gebaut mit Regeln, Abläufen, Spielen, er vertraut sehr auf seine Protagonisten und ihre autobiografischen Erzählungen von fiesen Nachbarschaftsstreits (weil diese sich beleidigt fühlen, drohen sie mit dem Jugendamt), Strategien (Hempel schickt meist ein "Keine Absicht, ist nur Tourette" vorweg) und Beobachtungen (Kaffenberger nennt den verrohenden Debattenton im Landtag durch die AfD "Parlaments-Tourette").
Andererseits arbeitet er viel stärker als etwa die Rimini-Arbeit Qualitätskontrolle von 2013 mit Improvisationsinseln und der Verabredung, dass alles auch ganz anders kommen könnte. Entsprechend scheinen die drei Männer und die Musikerin, die jedem einen Song auf den Leib geschrieben hat, den Abend immer stärker zu beherrschen. Sie tragen die Bedingungen vor, unter denen sie beim Projekt mitgewirkt haben. Sie erzählen von den Vorstellungen, die sie vom Theater allgemein und vom Abend im Besonderen haben. Sie bekommen Wünsche erfüllt.
Und sie demonstrieren, welch künstlerische Energie sie entwickeln können, wenn sie Tourette nicht unterdrücken: Einmal singt Jürgens mit sehnsüchtig-markanter Stimme vom Laufen, Morgenstern treibt ihn am Flügel voran. Toller Deutschpop, der weit schwingt, berührt. Vor allem aber übernehmen sie zunehmend die Kontrolle über den Abend. Spätestens, als Kaffenberger dazukommt und seine Antrittsrede im Landtag nachspielt, scheinen sich die Tics der drei zu intensivieren. Je mehr die Protagonisten den Ton angeben, desto stärker droht er zu zerbröseln. Und das ist erstaunlich spannend.
Herausforderung an Theaterkonventionen
Darin ähnelt der Abend "Not I" von Jess Thom alias Touretteshero aus Großbritannien, die Becketts Text in gebotener rasender Geschwindigkeit performt, aber inklusive aller Tics. Drumherum sitzt, hockt, liegt das Publikum – eine relaxed performance. Wem die Eindrücke zu viel werden, kann sich jederzeit in einen Extraraum zurückziehen und ebenso unproblematisch zurückkehren.
Auch auf der Depot-Bühne gibt es so einen Raum für die Performer, und auf der Publikumstribüne stehen neben der üblichen Bestuhlung Sofas, Sessel, Liegeplattformen für alle, die es auf den starren Sitzen nicht aushalten. Zugleich merkt man von Anbeginn, welche Herausforderung Tourette an unsere Theaterkonvention ist: Der Abend hat noch nicht einmal richtig begonnen, da räuspert, ploppt, maunzt Jürgens seine nonverbalen Tics schon irritierend über die Lautsprecher. Wir sind als Theatergeher auf Dunkelheit, Stillsitzen, Ruhe konditioniert. Ist diese Konvention es wert, Menschen auszuschließen?